Die Mär von Einöhrlein, Zweiöhrlein und Dreiöhrlein
oder „Wer hören will muss fühlen“

von Frank Weinreich


Das folgende Märchen entstand in einem genialen Workshop meines lieben Freundes und bekannten Fantasy-Autoren Markolf Hoffmann auf dem Elbenwaldspektakel 2009. Markolf hatte wunderbare Vorarbeit geleistet und uns in das Märchenschreiben eingeführt. Damit uns ein eigener Anfang nicht zu schwer fiel, hatte er typische Situationen, Orte und Personen auf Karteikarten als Inspiration verteilt. Das „Dorf der Blinden“ und „Einöhrlein, Zweiöhrlein und Dreiöhrlein“ inspirierten mich ganz ungemein, auch wenn aus dem Dorf der Blinden, ein „Dorf der Tauben“ wurde ...
Hören Sie immer auf Ihre innere Stimme ...




Weit hinter den Bergen, in einem Land ohne Namen, liegt das Dorf der Tauben, eine idyllische Siedlung von Menschen, die allesamt nicht hören können. Bescheiden aber glücklich leben die Menschen dort und wenn sie auch keinen Überfluss kennen, so darben sie auch nicht. Außerdem ist es außerordentlich ruhig dort.

Doch dem Bürgermeister des Dorfes wurden drei Söhne geboren, die allesamt hören und sich folglich auch das Sprechen beibringen konnten. Die aufgeweckten Knaben hießen Einöhrlein, Zweiöhrlein und Dreiöhrlein, was nicht nur die Reihenfolge ihrer Geburt bezeichnete, sondern auch die Tatsache, dass Einöhrlein über ein Ohr verfügte, Zweiöhrlein über derer zweie - wie auch Ihr - und Dreiöhrlein über drei Ohren; das dritte, ein besonders wohlgestaltetes, zierte seine Stirn.

Lange Zeit ging alles gut, doch als die Knaben zu Jünglingen heranwuchsen, begannen die Leute im Dorf zu tuscheln. In Gebärdensprache natürlich! „Sie sind anders als wir“, so raunten flinke Finger. Und „Wer weiß schon, was sie hinter unserem Rücken planen“ sorgten sich andere und streuten Gerüchte über Intrigen, die die Jungen angeblich anzettelten.

Die freilich hatten nichts Böses im Sinne, aber trotzdem kam der Tag, an dem der Bürgermeister dem geräuschlosen Drängen seiner Bürger nicht mehr widerstehen konnte. Er rief seine drei Söhne zu sich und eröffnete ihnen – schriftlich – , dass sie das Dorf der Tauben zu verlassen hatten und anderswo ihr Glück suchen sollten. Betrübt waren die Jünglinge, denn trotz der Ablehnung, die ihnen in der letzten Zeit entgegen gebracht worden war, hatten sie Vater und Dorf herzlich lieb. Doch es gab kein Zurück.



Als erstes fasste sich Einöhrlein, der älteste, ein Herz und schnürte sein Bündel, das Dorf zu verlassen. Er war noch nicht weit gekommen, da hörte er das erste Mal in seinem Leben eine andere Stimme, als die eines seiner Brüder. Und es war eine liebliche Frauenstimme, die links abseits des Weges aus dem Gebüsch ertönte. „Ist dort wer? Oh, bitte erhört mich, ich habe mich verlaufen und weiß des Weges nicht. Bitte helft, bitte sagt mir wo ich bin und wie ich Sicherheit und Unterschlupf finden kann.“

Voller Eifer zu helfen stürzte Einöhrlein in das Gebüsch, um die holde Maid zu suchen und zu beschützen. Doch ach, wie arglos war der Jüngling und dies wurde ihm zum Verhängnis. Denn dort im Gebüsch wartete gar keine Maid auf Rettung. Ein grässliches Ungeheuer hatte seine Stimme verstellt, um Opfer anzulocken. Im Nu war Einöhrlein im weiten Rachen des Unholdes verschwunden.

Zweiöhrlein war der zweite, der sich schweren Herzens auf den Weg machte. Er war jünger als Einöhrlein aber älter als Dreiöhrlein, so schnürte er sein Bündel weniger beherzt als der ältere, aber doch entschlossener als der jüngere Bruder. Zweiöhrlein verließ das Dorf und alles schien gut. Nur einmal vermeinte er, ein sattes Rülpsen von links des Weges zu vernehmen, doch es bekümmerte ihn nicht. Die Sonne schien, ein lindes Lüftlein wehte und langsam hob sich sein Herz, ob der Abenteuer, die er erleben würde.

Da sprach ihn eine zittrige alte Frauenstimme von rechts des Weges an und zum ersten Mal in seinem Leben hörte Zweiöhrlein eine andere Stimme als die seiner Brüder. „Ist dort wer? Oh, bitte erhört mich, ich habe schwer an meinem Bündel zu tragen und kann selbst mein wenig Hab und Gut nicht mehr halten. Bitte helft mir mit meiner Last, auf dass ich nicht noch des Wenigen entbehren muss, das ich noch besitze.“
Zweiöhrlein war stark und stattlich und er hatte auch ein gutes Herz, so dass es keine Frage war, dass er dem sicherlich alten Mütterlein dort im Gebüsch mit seiner Last helfen würde. Doch ach, wie arglos war der Jüngling und dies wurde ihm zur Verhängnis. Denn dort im Gebüsch wartete gar kein schwerbepacktes Mütterlein. Wieder hatte ein grässliches Monster seine Stimme verstellt, um arglose Opfer anzulocken. Voller Ungeduld sprang es Richtung Zweiöhrlein, obwohl der den Weg noch gar nicht verlassen hatte. Im Nu war Zweiöhrlein ... aber das könnt ihr euch sicher denken.

Inzwischen hatte sich auch Dreiöhrlein schweren Herzens entschlossen, sein Bündel zu packen und der schriftlichen Aufforderung des Vaters nachzukommen. Er war der jüngste der Brüder und der Abschied von Vater und Dorf fiel ihm am schwersten. Den Kopf gesenkt und mit dunklen Gedanken angefüllt verließ er das Dorf.

Schon bald kam er an die Stelle, an der Einöhrlein vom Weg abgewichen war und wieder ertönte eine Stimme aus dem Gebüsch: „Ist dort wer? Oh, bitte erhört mich, ich habe mich verlaufen und weiß ...“ Doch Dreiöhrlein hörte wegen seiner besonders guten drei Ohren, dass etwas mit der Stimme nicht stimmte und hastete schnell weiter.

Er war noch nicht weit gekommen, da hörte er eine zittrige alte Frauenstimme von rechts des Weges und diesmal wäre bestimmt auch Dreiöhrlein vom Wege abgewichen, denn diese Imitation war wirklich gut. Doch glitzerte noch eine frische Blutlache am Wegesrand und Dreiöhrlein hastete schnell weiter.

Die Ereignisse hatten Dreiöhrlein bewiesen, dass sein Gehör ein Fluch war. Nicht nur hatte diese Fähigkeit zu seines und der Brüder Ausschluss aus dem geliebten Dorf geführt, auch die Anschläge auf der Reise hatten beinahe zu seinem Verderben geführt, nur weil er die Gabe des Hörens besaß. Entschlossen zog Dreiöhrlein sein Messer und stieß es – zack, zack, zack – rechts und links und mitten in seine drei Öhrlein.
Nun konnte ihn nichts mehr ablenken und zielstrebig folgte er seinem Weg. Dieser führte ihn schon bald zu einer großen Schatztruhe und, heißa!, sein Leben war wieder gemacht. Fröhlich schulterte er die Truhe und machte sich zurück auf den Weg ins Dorf. Nicht nur war er ja nun auch wahrlich einer der ihren, er führte auch einen Schatz mit sich, der dem Dorf erstmals Überfluss bescheren würde.

Und groß war die Freude, als Dreiöhrlein die Heimat wieder betrat. Mitten auf dem Dorfplatz öffnete man die Schatztruhe. Doch ach, sie war bis oben hin angefüllt mit MP3-Playern. Für die hatte hier nun keiner Verwendung. Doch rasch verkaufte man die edlen Teile zu einem guten Kurs bei Ebay und wenn sie nicht gestorben sind, leben sie im Überfluss bis zum heutigen Tage.

(Bilstein, im Juni 2009, mit herzlichem Dank an Markolf Hoffmann)