Fantasy, Science Fiction, Horror – Gedanken über die Aussagekraft von Genreeinteilungen in der phantastischen Literatur
von Frank Weinreich



Genauso wenig wie es ‚falsche’ Genredefinitionen
gibt, existieren ‚endgültig richtige’.
(Simon Spiegel: Theoretisch phantastisch)


Die Phantastik – unendliche Weiten? Wir lesen und lesen und lesen ... und lesen uns dabei durch Genres, auf deren Bedeutung und Inhalt sich noch keine zwei Menschen einigen konnten. Kommt Ihnen das bekannt vor?

Die Phantastik reicht so weit, wie die Phantasie der Künstler und Schriftsteller, die sie erschaffen, und so weit wie die Träume des Publikums, das sich in ihre Welten begibt – die Welten der Fantasy, des Horrors, der Märchen, der Science Fiction und was es da noch so an Genres gibt. Gemeinsam ist den phantastischen Geschichten, dass sie vom Unmöglichen berichten. Doch das, was ihnen nicht gemeinsam ist, ist das, was die Genres der Phantastik konstituiert. Und da beginnt ein Problem, das sich in der allgemeinen wie der wissenschaftlichen Diskussion so sehr ausgeweitet hat, dass unklar ist, wie weit überhaupt von Genres in der Phantastik gesprochen werden kann. Das führt dann zu der Frage, ob eine Aufteilung nach Genres überhaupt noch sinnvoll ist.


I

Denn wie weit tragen eigentlich die Genredefinitionen? Wie aussagekräftig sind sie? Und was halten sie an ihren jeweiligen Grenzen an Belastung aus? Einer der Punkte, der bei meinen Lesungen fast immer diskutiert wird, betrifft beispielsweise die Einwände, die gegen Genregrenzen wie Fantasy und Science Fiction erhoben werden: „Aber meinen Sie nicht, dass man Betaluna XYZ auch als Fantasy betrachten kann?“ Und fast immer haben die Diskutierenden recht damit, dass Betaluna XYZ unter Anlegen gewisser Prämissen durchaus auch anders gesehen werden kann. Was meinen Sie beispielsweise, wo man die folgende Geschichte einsortieren sollte?


So?

„Petarrs Atem pfiff in der Dunkelheit und einzig der Umstand – dass er sich auf der Flucht vor den Werwölfen völlig verausgabt hatte – verhinderte, dass er auf der Schwelle des Hortes weinend zusammenbrach: Maxins letzte Worte hatten es zur Gewissheit werden lassen: Wollte Petarr den Drachen noch stoppen, so musste er sich opfern. Gänzlich! Die Wunde in seiner Seite schmerzte höllisch, doch das Blut sickerte nurmehr langsam in den zerissenen Lederpanzer, als der schmale, junge Krieger sich erhob und den Gang entlang in das Dunkle hinein taumelte. Beeilen musste er sich nicht mehr, Maxins Opfer hatte die Werwölfe endgültig aufgehalten ... und der Drache ... der würde nicht fliehen.

Warum hätte er auch fliehen sollen? Ein einzelner Waukien, und wäre er noch so entschlossen, konnte ihm nicht das Geringste anhaben. Doch Ärger hatte ihm Petarr genug bereitet, und er war sich sicher, dass der Drache ihn nun freudig erwartete. Ihn erwartete, um sich fürchterlich zu rächen. Dass der Herztalisman immer noch existierte, wusste die Bestie nicht und selbst wenn, hätte sie in ihrer Arroganz wohl nicht geglaubt, dass die Magie des Talismans sie bedrohen könnte. Doch das konnte sie, um den Preis von Petarrs Leben, um den Preis von Petarrs unsterblicher Seele.

Zwanzig Meter noch. Und das war gut, denn Schwäche begann nun doch, Petarrs Beine hinaufzukriechen, die Knie zitterten bei jedem Schritt. Die letzten zwanzig Meter. Bihanna, seine Eltern, der Clan, das Kallisblumental – er würde das alles nicht mehr wiedersehen. Und er würde niemals wiedergeboren werden; ein Schicksal, wie es seit mehr als tausend Jahren keinem Waukien mehr zugestoßen war. Keiner der Krieger, die ihr Leben gelassen hatten, wusste, wann und wo und wie er wiederkommen würde. Doch Petarr wusste mit Sicherheit, dass er nie wiederkäme. Es war das größte Opfer – für das Kallisblumental, den Clan, seine Eltern, für Bihanna. Petarr trat in den Hort.

Der Drache brüllte seine unbändige Wut hinaus. Eine Klaue schoss hervor und riss Petarr in die Luft, hob ihn vor den Schlund, der ihn im Ganzen verschlingen könnte. Doch so einfach würde der Drache es diesem ‚Kind’ nicht machen. Er würde ein Exempel statuieren. Doch was war das? Das Kind öffnete die Augen und wagte es, ihn anzublicken. Es streckte ihm eine Hand entgegen, in der ein herzförmiges Juwel funkelte, strahlte, brannte ... und immer weiter wuchs ...
Peter schoss mit einem Schluchzen empor, die Elektromuskeln der Suspensionsliege schafften es nicht, die plötzliche, heftige Bewegung zu kompensieren. Tränen der Erleichterung begannen, ihm die Wangen herabzurinnen, und er war froh, dass er allein in der Neurostimulationskammer saß ... einer der wenigen Orte auf dem Generationenraumer, an dem man wirklich einmal alleine war, während das Schiff auf seinem Ionenantrieb durch die interstellare Leere glitt. Doch Einsamkeit zu finden, war nicht der Grund dafür gewesen, dass Peter sich den Traumwelten der Neurostimulation übergeben hatte.

Dr. Randorny hatte Recht behalten, dies wurde Peter klar, als die Erlebnisse des jungen Waukienkriegers, die die KI für ihn generiert und in sein Unterbewusstsein infundiert hatte, von ihm abfielen wie Wasserperlen auf genosynthetisiertem Plyplastik-Holz. Ein trauminduzierter Stresstest in der Kammer war genau das Richtige gewesen, um ihn über seine Wünsche und seine Grenzen klarer werden zu lassen. Peter wusste nun, was zu tun war ...“



Oder so?

Hmmm, da haben wir also Petarr, der es mit Werwölfen und einem Drachen zu tun hat und der sich seines Gegners mit Hilfe von Magie erwehrt. Doch Petarr stellt sich als Peter heraus, der in einem Generationenraumschiff durch das All fliegt. Ist das also Science Fiction oder Fantasy? Und was wäre, wenn als nächstes berichtet wird, dass eine gewisse Melanie ruft „Cut!“, der Schauspieler Peter verlässt die Bühne, auf der die aus Sperrholz gefertigte ‚Neurostimulationskammer’ steht, und die weitere Handlung widmet sich der unglücklichen Ehe des Mimen aus Liverpool?

Oder wie wäre es, wenn Der Herr der Ringe nicht mit dem Satz endete: „Sam holte tief Luft. ‚Ja, ich bin zurück.’“, sondern mit „Und Sam wachte auf“? Und wenn Sam nun aus dem Traum namens Der Herr der Ringe aufwacht und sich auf einer Raumstation befindet. Ist das dann wieder Science Fiction? Oder wenn er als High-School-Kid in Sunnydale, USA, aufwacht? Ist es dann ein realistischer Roman? Der in der beschwerlichen Queste nach Mordor das Unterbewusste eines Teenagers thematisierte?


II

Anscheinend ist es doch nicht so ganz einfach, Genregrenzen festzusetzen. Es muss wohl einen Grund dafür geben, dass es so schwierig ist, die Subgenres der Phantastik wie auch die Phantastik selbst zu definieren.

Wie schwierig es ist, das Definitionsproblem zu lösen, sehen wir beispielhaft bei John Clute, einem ganz exzellenten Theoretiker der phantastischen Literatur. Clute hat mit Peter Nicholls zusammen die knapp 3000-seitige Encyclopedia of Science Fiction verfasst und mit John Grant die nur unwesentlich kürzere Encyclopedia of Fantasy. In den beiden Lexika benutzt er die naheliegendsten Lösungen dieses Problems, die aber jeweils am Ende der möglichen Lösungsspektren liegen. Damit zeigt Clute zugleich die ganze Bandbreite der Problematik auf. Im Science-Fiction-Lexikon führen Clute und Nicholls unter dem Begriff „Definitions of SF“ einundzwanzig Definitionen ausführlicher auf und verweisen darauf, dass diese Sammlung nur ein Ausschnitt aus dem Definitionsangebot sei (vgl. 311-314). Im Fantasylexikon vier Jahre später geben Clute und Grant eine stringente, aber sehr weitgefasste Definition von Fantasy, obwohl es ebenfalls mehr als einundzwanzig Fantasy-Definitionen gibt, die sie hätten vorführen können. Stattdessen geben sie eine kluge eigene Definition, die aber so weitgefasst ist, dass sie selbst sagen, dass dann auch Joyces Ulysses, Kafkas Schloss und Thomas Manns Zauberberg als Fantasy anzusehen seien (vgl. 338).
Da ist zwar wohl nicht nur Elke Heidenreich vor, aber im Prinzip haben Clute und Grant recht und die genannten Leuchttürme der Literaturgeschichte weisen zumindest Elemente von Fantasy auf; wie es früher bei Klassikern wie Goethe oder besser noch Shakespeare sogar fast ein selbstverständlicher Aspekt der Werke war.

Andere weite Definitionen von Fantasy schließen dann sogar religiöse Texte und Überlieferungen ein, so dass Widerstand gegen diese Definitionen vorprogrammiert ist. Dem kann man wiederum durch Einschränkungen begegnen. So schließe ich aus meiner Fantasydefinition alles aus, was nicht als Fiktion daherkommt und umgehe so den problematischen Status religiöser Texte (vgl. Weinreich 2007, 32). Hans-Heino Ewers beschränkt seine gerade veröffentlichte Fantasydefinition unter anderem dahingehend, dass er Fantasy historisch wie inhaltlich als Nachfolgerin des Ritter- und Heldenepos definiert (vgl. Ewers, 9f.) und dergestalt Joyce, Kafka und Mann ausschließen kann. Derartige Beschränkungen aber werden durch Nachteile erkauft. Wenn beispielsweise Ewers alle nicht episch-heroische Fantasy ausschließt, ist das auch nicht befriedigend.

Gerade eben hatten wir noch beim Tolkien-Tag-Niederrhein 2011 in Geldern die Diskussion darüber, dass selbst die Grenze zwischen Phantastik und Realität nicht aufrecht zu erhalten ist. Literarische Praktiker wie der Lektor Helmut Pesch und die Fantasy-Autorin Susanne Gerdom wiesen in der Diskussion eines Vortrags mit dem Thema Die Phantastik ist nicht phantastisch darauf hin, dass alle fiktionale Literatur nicht nur fiktional sei, sondern eben auch in vielfachen Abstufungen phantastische Elemente enthält. Außerdem wurde gesagt, dass auch die Grenze zwischen Realität und Phantastik nicht eindeutig zu ziehen ist. Dem halte ich zwar entgegen, dass wir sehr wohl ein pragmatisches Verständnis von Realität haben, dass sich dann in einem pragmatischen „Gattungsbewusstsein“ niederschlägt (Spiegel, 29), aber in erkenntnistheoretischer Hinsicht ist das natürlich richtig und Literatur und Film nutzen diese Unschärfe in zunehmender Weise für ihr Spiel mit der Realität und für das Spiel mit den Vorstellungen ihres Publikums.

Trotzdem gelingt es einem gesunden Alltagsverständnis von Realität und Phantastik, uns ziemlich zuverlässig darüber zu informieren, dass ein großer Teil des Personals wie auch der Ereignisse in phantastischer Literatur und Kunst wirklich phantastisch und mit der Realität nicht übereinstimmend sind: Zauberdrachen gibt es nicht, das Beamen funktioniert nicht und auf dem Friedhof in Wattenscheid-Sevinghausen öffnen sich nachts keine Gräber, um Untote zu entlassen. Aber schon bei Vampiren oder Zombies kann es unter Umständen schwierig werden, da nicht per amtlicher Verfügung festgelegt ist, was ein Vampir oder Zombie genau ist. Und so muss man sich schon erst genauer darüber verständigen, dass beides Tote sein sollen, die durch übernatürliche Einflüsse zu einer Art von Leben oder wenigstens Aktionsfähigkeit befähigt wurden, bevor man sagen kann: Okay, das ist in unserer Realität nicht möglich.

Man lernt an den Definitionsdilemmata ganz plastisch, dass jede Definition eine normative Setzung ist und als solche angezweifelt, modifiziert oder ersetzt werden kann. Und das sogar in den Naturwissenschaften. Nur ist es in den Naturwissenschaften so, dass die empirisch feststellbaren Tatsachen in den allermeisten Fällen so ausfallen, dass es sinnlos ist, sich an Definitionen zu versuchen, die im Falle ihrer Modifikation mit der Faktenlage kollidieren. Da ist es schon sehr viel leichter, die Definitionen in den ‚weicheren’ Geisteswissenschaften zu verändern. Doch wie anders als über den Weg der Definition sollte man versuchen, Dinge zu klassifizieren, über die man nachdenken, über die man diskutieren möchte. Und Genres sind nichts anderes als Definitionen, denn die Genrebeschreibung tut nichts anderes, als festzulegen, was das Genre ist; die Beschreibung definiert.


III

Und auf diese Weise funktionieren die Genredefinitionen immer weniger. Wenn wir von Fantasy reden, haben wir zwar instinktiv ein gutes Verständnis dessen, was damit gemeint ist. Der Laie denkt an Der Herr der Ringe, Harry Potter, Conan und vielleicht bald auch an Twilight und ordnet es damit zumindest schon mal nicht falsch ein. Und wer sich für die Fantasy interessiert, lernt auch ganz schnell, dass es da noch viel mehr gibt, und dass aber die meisten Werke von Isaac Asimov da nicht so ganz viel mit zu tun haben. Die sind vielmehr Science Fiction und Science Fiction ist, was oft etwas mit Technik zu tun hat, und anders als die Fantasy gar nicht so unmöglich ist, denn die beispielsweise von Jules Verne prognostizierte Reise zum Mond ist ebenso wie 1984 ja längst wahr geworden.

Das ist zwar schon ganz gut, lässt aber alle Randbereiche aus. Und das wiederum ist doof, da die Randbereiche zwischen den Genres immer breiter werden, oder, wie Susanne Gerdom scherzhaft meinte (2011, persönliche Kommunikation), mittlerweile deutlich breiter sind als die Kernbereiche eines Genres. Und da ist etwas dran. Die meisten Künstler und Schriftsteller leben dafür (und davon), dass sie Neues zeigen oder erzählen. Und Film- wie Buchverlage sind schon aus kommerziellen Gründen daran interessiert, neue Hypes um Subgenres entweder zu kreieren oder sie zumindest nicht zu verpassen. Das führt dann zu Urban-Vampire-Fantasy auf gefühlten Regalkilometern der Lieblingsbuchhandlung in dem einen Jahr und vielleicht zu Spaceship-Martial-Arts-Dämonenjägern im nächsten Jahr. Genremixes sind dabei ein recht zuverlässiges Mittel, um Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Oder sie waren es vielmehr, denn mittlerweile ist der Mix so weit fortgeschritten, dass jede mögliche Kombination der Motive wie auch der Genres Mainstream geworden ist.

Wenn wir uns also eingehender mit der Phantastik beschäftigen, dann sehen wir, dass die Genreränder ganz schön ausgefranst sind, dass es da gewaltige Überschneidungen gibt, und dass man weitere Hilfsdefinitionen braucht, um sich näher damit beschäftigen zu können. Das ist aber gar nicht schlecht.

Denn so kommen wir langsam zu einem ausdifferenzierten Verständnis von Genres, Subgenres und ihren Inhalten und haben auf diesem Weg gelernt, den Begriff des Genres nicht mehr statisch zu sehen, ja ihn überhaupt nicht mehr so hoch zu hängen und ihn wieder als die klassifikatorische Hilfsfunktion zu gebrauchen, die das Genre auf dem Weg des Verständnisses der einzelnen Werke eigentlich darstellt. Und die inhaltliche Ebene des Einzelwerkes, zu der wir jetzt so langsam vordringen, ist doch das eigentlich interessante. Sei es Phantastik oder Realismus, auf dieser Ebene werden die wichtigsten literaturwissenschaftlichen und andere das Werk betreffende Aussagen ausgesprochen.

Und von dort aus führt der Weg bei Bedarf wieder hinauf zu Autoren, Autorengruppen, zu Gruppen ähnlicher Werke und wieder zu den Subgenres und Genres, die uns die Orientierung gaben, uns im Dschungel der Bücher, Filme und Spiele zurechtzufinden. Als solches halte ich die Genres dann wieder für gut brauchbar. Zu diskutieren, was sie dann im Einzelnen ausmacht, dazu bin ich gerne bereit. Das hält begrüßenswerterweise doch nur die Diskussion im Schwung. Außerdem kommt es im Verlauf dieser Diskussionen regelmäßig zu erhellenden Einsichten in Einzelwerke oder Gruppen ähnlicher Bücher, Filme oder Spiele.


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IV

Aber, so lautet der Einwand besonders der Wissenschaften, damit kann man doch nicht arbeiten, mit dieser Unbestimmtheit? Will man ernstlich davon ausgehen, dass es reichen soll, grobe Merkmale wie Drachen und Magie als hinreichende Bestandteile zu nehmen, um von Fantasy zu reden und darauf eine intersubjektiv gültige Diskussion aufzubauen? Oder die Existenz von Zukunftstechnologien als hinreichendes Merkmal von Science Fiction anzunehmen?

Ja, das kann ausreichend sein. Man muss nur die Prämissen völlig transparent halten, damit jeder Mensch nachvollziehen kann, wovon man redet, und dann geht das durchaus. Grenzwertige Werke und Streitfälle wie die Erzählung von Petarr/Peter erfordern dann eben eine Ausweitung der Diskussion.

Und solche Diskussionen finden tatsächlich statt und tragen dann eine ganze Menge zum Verständnis bei. Auf dem Elbenwaldspektakel haben Friedhelm Schneidewind und ich das beispielsweise mal mit Publikum durchexerziert. Die Frage im Rahmen einer offenen Diskussionsrunde lautete, ob der Filmzyklus Star Wars Science Fiction oder Fantasy sei. Friedhelm vertrat die Ansicht es sei SF, ich bezeichnete die Reihe als Fantasy und das Publikum teilte sich ebenfalls ungefähr halb und halb auf. Meines Eindrucks nach gab es keinen ‚Sieger’ der Diskussion und ich weiß auch nicht, ob auch nur ein Diskussionsteilnehmer seine Meinung änderte, während ich weiß, dass sowohl Friedhelm als auch ich weiterhin die gleichen Positionen vertreten. Aber es kam eine ganze Menge über das Wesen von sowohl Fantasy als auch SF zur Sprache. Es wurden Lesarten, Eindrücke und Interpretationen ausgetauscht. Besonders die Bedeutung beider Genres für die eigene Lebenssituation kam mehrfach zur Sprache und zeigte ganz praktisch auf, was das Publikum an Gewinn aus der Lektüre oder dem Anschauen von Phantastik zu ziehen imstande ist.

Außerdem ... ist es denn im konkreten Lektürefall wirklich so wichtig, ob ein Werk zu dem oder dem Genre gehört und wann macht es etwas aus, wenn es mal zu beiden oder zu noch mehr Genres gehören sollte? Bei den meisten inhaltlichen Diskussionen, etwa über politische, psychologische, soziale oder philosophische Implikationen phantastischer Literatur, dürfte es doch vom Inhalt einer oder mehrerer Filme, Spiele oder Erzählungen abhängen, welche Schlüsse man ziehen kann. Problematisch werden dann doch nur Pauschalierungen wie „im Horror ist es ja immer so, dass ...“ – und da sind alle das Gegenteil beweisenden Grenzfälle doch geradezu ein Geschenk.

Also ist es gar nicht so schlimm, sich auf ein unscharfes Allgemeinverständnis von Genrezugehörigkeiten zu verlassen, auch wenn ich viele der akademischen Kolleginnen und Kollegen dabei mit den Zähnen knirschen höre. Hier die Drachen und Zauberer, dort die Phaser und die Raumschiffe, das reicht bei aller Ungenauigkeit zunächst einmal aus, und der Rest ergibt sich dann in der Diskussion.

V

In den meisten Fällen kann die Zugehörigkeitsfrage ja, wie schon gesagt, auch recht sicher beantwortet werden: Frank Goosens Liegen lernen ist so was von realistisch und Michael Endes Unendliche Geschichte ist so was von phantastisch, dass für den Gesprächseinstieg über die Bücher nicht gestritten werden muss, in welche Großschublade sie gehören. Dass aber beides Entwicklungsromane sind, die vom Auf- und Hineinwachsen in eine komplizierte moderne Welt erzählen, ist etwas anderes, was erst beim nächsten Schritt im Gespräch festgestellt wird. Dass sie das gleiche Thema mit verschiedenen Mitteln umsetzen, deutet dann auf einen ganz anderen Aspekt hin.

Es gibt offensichtlich Sachverhalte, die man mit Mitteln der Phantastik besser darstellen kann als mit denen des Realismus. Hier kommen wir dann auf eine zweite Ebene des Sinns von Genreeinteilungen. Genres klassifizieren nicht nur, sie können auch funktional sein. Da sich bestimmte Dinge leichter oder sogar ausschließlich mit den Mitteln und Inhalten eines bestimmten Genres sagen lassen, ist die Genreeinteilung nicht nur aus klassifikatorischen Gründen sinnvoll, sondern auch aus inhaltlichen. In den Subgenres der Phantastik setzt sich das auf der nächsttieferen Ebene von Science Fiction, Horror und Fantasy fort und in deren Unterkategorien, Urban Fantasy oder Dark Fantasy zum Beispiel, kann das ebenso gelten, selbst wenn man konstatieren muss, dass mögliche Funktionalitäten undeutlicher werden, je kleinteiliger man ausdifferenziert.

Auf der Ebene der großen Subgenres ist die Unterteilung – wiederum mit Blick auf die Mehrheit der Werke – aber noch recht leicht, so dass man vielfach zu wenig disputierten Einteilungen in Horror, Science Fiction und Fantasy kommt. Wenn man nun beobachtet, dass diese großen Subgenres ganz typische Mittel benutzen, um ihre Themen1 zu beleuchten, so zeigt sich, dass diese Subgenres in vielen Fällen neben bloßer Schubladenbildung eben auch typische Funktionen erfüllen (können). Sie müssen das nicht tun, typische und berühmte Genrevertreter weisen diese Funktionen aber sehr oft auf.

Der Horror versucht typischerweise zu verunsichern. Er lässt Dinge oder Ereignisse in normale Leben hereinbrechen, die die menschliche Psyche auf Belastungsproben stellen und verhandelt so nebenbei das Wesen des Menschen oder wenigstens Aspekte dieses Wesens. Stephen King als derzeit erfolgreichster Vertreter des Horrors baut fast sein gesamtes Schaffen darauf auf. Auch im Horror ist übrigens die persönliche Entwicklung ein ganz beliebtes Thema, etwa wenn King in Carrie die Grausamkeiten des Heranwachsens aufgreift und sie als brutalen Horror darstellt.

Die Funktionen des Horrors sind persönlicher Art und reichen von dem Bezug auf und der Verarbeitung von typisch menschlichen Ängsten über das Hinterfragen von Gewissheiten bis zu kathartischen Lösungen von Ängsten und Aggressionen durch stellvertretende Fiktionen. Immer aber geht es, mit Hans Baumann gesprochen, „darum, das Grauen in fiktionaler Weise aufzubereiten, um es partiell genießbar zu machen“ (Baumann, 217). Das, könnte man angesichts einer teils unerträglichen Welt sagen, ist eine therapeutische Funktion, aber jedenfalls eine sehr individuelle.

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Fantasy handelt oft von weltanschaulichen Fragen, wie sie im realen Leben auch vorkommen und verfremdet und überhöht diese, um die beschriebenen Punkte ganz deutlich zu machen. Sehr oft thematisiert wird Ethik; der Kampf von Gut gegen Böse durchzieht das Genre in sehr, sehr vielen Publikationen und Filmen. Aber auch andere philosophische Fragen können Thema in Fantasy sein. Bei Dennis McKiernan beispielsweise finden sich in jedem seiner Mithgar-Romane, und auch in den meisten anderen Büchern, ganz explizit philosophische Themen wie die Willensfreiheit oder das Problem der Realität.

Typischerweise sind philosophische und weltanschauliche Fragen auch eine sehr persönliche Angelegenheit. Interessanterweise steht bei der Fantasy, ähnlich wie bei dem verunsicherten Individuum im Horror, aber ganz anders als in der Science Fiction, ebenfalls das individuelle Verhalten im Vordergrund. Fantasy erzählt besonders gerne von persönlichen Anstrengungen und Konflikten: Harry gegen Voldemort, Frodo gegen eine unpersönliche Kraft, die ihn als Persönlichkeit zerbrechen will. Fantasy baut Situationen auf, in der Personen stellvertretend für das Publikum getestet werden.

Das war schon in einer der ersten ‚Fantasy’2-Geschichten der Fall, der Geschichte von Gyges und seinem unsichtbar machenden Ring. Der Philosoph Platon benutzt diese Story vor zweieinhalbtausend Jahren, um in seinem ethischen Hauptwerk, Politeia, eben diese Ethik zu erläutern. Gyges findet einen unsichtbar machenden Ring und schafft es durch Verbrechen, die er im Schutze der Unsichtbarkeit verübt, vom Schafhirten zum König aufzusteigen (Politeia, 359b-360c). Die Zuhörer werden ausdrücklich aufgefordert, mitdenkend Gyges´ Platz einzunehmen und sich vorzustellen, wie sie auf die erzählten Möglichkeiten wohl reagiert hätten. Fantasy hat nun natürlich üblicherweise nicht einen derartigen ins Auge springenden pädagogischen Ansatz, aber die individualisierten Anstrengungen, das Leiden und die Versuchungen der Protagonisten einer Fantasygeschichte, lassen die Leserinnen und Leser automatisch einen Bezug zwischen sich und der Story herstellen, selbst wenn dieser gedanklich nicht ausdrücklich thematisiert werden sollte. Es berührt einen, und es berührt einen aus dem Grund, dass man sich in die Anstrengungen, das Leiden und die Versuchungen hineinversetzt.

Fantasy kann auch andere Aspekte haben, kann beispielsweise politisch sein. In Der Herr der Ringe etwa lassen sich eine ganze Reihe interessanter politischer Beobachtungen machen (van de Bergh, Weinreich 2005). Aber in ungefähr der gleichen Weise wie es einen Kernbereich der Fantasy gibt, der recht eindeutig als unter das Genrebewusstsein fallend als Fantasy verstanden wird, so sind auch die Bemühungen und das Leiden von Individuen typische Inhalte der Fantasy. Als Funktion lässt sich demnach für diesen typischen Teil des Genres die Frage nach der Menschlichkeit ausmachen. Fantasy verhandelt besonders oft das Individuum und sein Verhalten und sein eigentliches Wesen.

Das liegt allerdings auch daran, dass Fantasy generell dazu neigt, nicht unbedingt konkrete Probleme aufzeigen zu wollen, sondern vielmehr eine Stimmung hervorrufen möchte. Eine völlig unprogrammatische Funktion von Fantasy ist die Verzauberung, das Enchantment, das Tolkien als eine der wesentlichen Funktionen des Genres herausgestellt hat (Tolkien, 14). Fantasy erzählt Geschichten, die den Leser zum Eintauchen in stimmungsvolle Welten einlädt, auch wenn das durchaus dunkle und beängstigende Welten sein können. Man lässt sich verzaubern und sucht Erholung von der Realität. Die Verzauberung stellt sich wirkungsvoller ein, wenn man mit Frodo durchs Auenland oder auch durch Mordor streift, als wenn man dem intellektuellen Disput zwischen Winston Smith und O´Brien im Ministerium der Liebe folgen würde.

Science Fiction ist meist deutlich unromantischer, und will nicht verzaubern, sondern zu kühlerem Nachdenken anregen. und behandelt besonders oft gesellschaftspolitische, überindividuelle Fragen. Natürlich kann SF auch anders. Eine der ganz großen Folgen aus Star Trek, die Folge Inner Light aus der Sechsten Staffel von Next Generation, konzentriert sich völlig auf Captain Picard und lässt ihn ein ganzes Menschenleben innerhalb einer halben Stunde durchlaufen; ein Plot, den man typischerweise in der Fantasy erwarten würde. Auch der SF-Film Enemy Mine von Wolfgang Petersen aus dem Jahr 1985 konzentriert sich als Kammerstück auf zwei Personen und deren individuelles Verhalten im Angesicht des fremden anderen. Aber schon hier bricht der Plot verallgemeinernd auf, und fordert die Zuschauer auf, über Fremdenangst und Vorurteile in einem allgemeineren Sinn nachzudenken. Der größte Teil der berühmten literarischen SF handelt schwerpunktmäßig dann ganz offen über politische oder soziale Themen. Denken Sie an das Werk von H. G. Wells, besonders Time Machine, oder an George Orwells 1984 oder Aldous Huxleys Brave New World, William Goldings Lord of the Flies, und an alle SF von Ursula K. Le Guin. Übrigens ist Le Guin nicht nur eine der wichtigsten Science-Fiction-Autorinnen, sondern auch eine wichtige Fantasy-Autorin. Und wenn sie über das Wesen des Menschen philosophiert, wie im Erdsee-Zyklus, so ist es wohl kein Zufall, dass sie dann ein Fantasy-Setting wählt.

SF ist gegenüber der Fantasy oftmals sogar offen programmatisch. Die deutsche Autorin Charlotte Kerner beispielsweise ist eine in der medizinethischen Debatte sehr bekannte Kritikerin der neuen Biotechnologien. Sie nimmt mit journalistischen und Sachbuchbeträgen seit Jahren an der Diskussion teil. Oder eben mit Science-Fiction-Büchern wie Blaupause oder Kopflos. In diesen Büchern vertritt sie in fiktionaler Form die gleichen Positionen wie in ihren nichtfiktionalen Beiträgen, hat aber unter Umständen mehr Wirkung, weil ihre Beispiele, von dem was noch nicht, aber vielleicht bald möglich ist, überzeugender wirken als trockene Analysen. Auch wird die Trennung von Fakten und Fiktionen gerne durch den Einsatz von Versatzstücken aus der Science Fiction aufgehoben. So schrieb der Molekularbiologe Lee Silver ein Sachbuch mit dem Titel Das geklonte Paradies und füllte dieses Werk mit einer ganzen Reihe von spekulativen Ausblicken in die Medizin der Zukunft, die nichts weiter sind als reine Science Fiction. Silver tritt in dem Buch als glühender Befürworter der Technik auf und benutzt dabei die exakt gleichen Mittel wie die Kritikerin Kerner. SF tritt in beiden Fällen als Kunst beziehungsweise Literatur hinter den programmatischen Anspruch zurück und wird ganz eindeutig zu funktionaler Literatur, die praktisch nur für die gewählte Sache eintritt und allenfalls aus dem Grund unterhaltende Elemente wie eine Handlung oder einen Spannungsbogen einsetzt, um die Leserinnen und Leser bei der eigenen Sache zu halten.

Diese letzten Überlegungen zu Horror, SF und Fantasy führten in ihren Details ein wenig vom eigentlichen Thema der Genrebetrachtung fort. Ich hoffe jedoch, dass dadurch der potenziell funktionale Charakter von Genredifferenzierungen klar wurde. Die Lektüreerfahrungen und sonstige Erfahrungen der Menschen, die sich der Phantastik zuwenden, bedingen eine gewisse Erwartungshaltung, und das bedeutet, dass Genres keine reinen Kopfgeburten von Wissenschaftlern sein können, die abstrakte Messlatten an Texte und Filme anlegen, um sie in bestimmte Schubladen stopfen zu können. Genres sind gewachsene Einheiten, von denen jedes einzelne in einem ganzen Wald von Mit-Genres aufwächst. Das führt immer wieder zu geplanten wie ungeplanten Befruchtungen und sorgt so für die eingangs behandelte Durchlässigkeit und die oftmals mangelnde Trennschärfe. Aber es sorgt auch für die Lebendigkeit in einem andernfalls toten Bibliothekskatalog.

Sie sehen, auch wenn die Genrebegriffe schwammig wirken mögen – und so schwammig sind sie meist gar nicht – so geben sie doch wertvolle Orientierung. Man kann mit ihnen als Wissenschaftlerin oder Kritiker arbeiten, man kann sich nach ihnen als Publikum richten. Was man aber wirklich nicht mit ihnen tun kann – weil sie eben durchlässig und lebendig und unscharf sind – ist, ein Genre „an sich“ zu beurteilen oder gar zu verteufeln, wie es aber gerade die etablierte Literaturkritik ganz gerne macht. Das aber ist eine Abkürzung, die die üblichen Genreeinteilungen nicht erlauben, und das ist gut so.


Bochum, im Juni 2011


Literatur
Baumann, Hans D.: Horror. Die Lust am Grauen. Weinheim, Basel: Beltz. 1990.
Clute, John, Nicholls, Peter. The Encyclopedia of Science Fiction. London: Orbit 1993.
Clute, John, Grant, John. The Encyclopedia of Fantasy. New York: St. Martin´s Press 1997.
Ewers, Hans-Heino. „Fantasy – Heldendichtung unserer Zeit. Versuch einer Gattungsdifferenzierung.“ Zeitschrift für Fantastikforschung, 1/2011. 5-23.
Platon: Sämtliche Dialoge. Hrsg. v. O. Apelt. Hamburg: Meiner 1993.
Silver, Lee M. (1998): Das geklonte Paradies. Künstliche Zeugung und Lebensdesign im neuen Jahrtausend. München: Dromersche Verlagsanstalt 1998.
Spiegel, Simon. Theoretisch phantastisch. Eine Einführung in Tzvetan Todorovs Theorie der phantastischen Literatur. Murnau: p.machinery 2010.
Tolkien, John Ronald Reuel. Tree and Leaf. London: Grafton, 1992.
Van de Bergh, Alexander. Mittelerde und das 21. Jahrhundert. Zivilisationskritik und alternative Gesellschaftsentwürfe in J. R. R. Tolkiens The Lord of the Rings. Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier 2005.
Weinreich, Frank. „Verfassungen mit und ohne Schwert. Impressionen idealer Herrschaftsformen in Mittelerde als Ausdruck des politischen Verständnisses von J. R. R. Tolkien.“ Tolkiens Weltbild(er). Hither Shore, Band 2. Th. Fornet-Ponse et al. (Hrsg.). Köln: Scriptorium Oxoniae 2005. 89-104.
Weinreich, Frank. Fantasy. Einführung. Essen: Oldib 2007.


1Es ist an dieser Stelle sehr schwierig, „Thema“ und „Mittel“ auseinanderzuhalten, denn die folgenden Mittel sind auch Themen in der realistischen wie der phantastischen Literatur. Die folgenden Mittel – Verunsicherung im Horror, weltanschauliche Diskussion in der Fantasy, sozialkritische U- und Dystopien in der SF – reflektieren auf die conditio humana und sind ihrerseits Themen für dieselbe. In ihrer Reflektionsform unterliegen sie aber anderen Themen, die sie im Sinne eines Mittels nur ausleuchten; etwa der Horror, wenn er das Heranwachsen und das dazu gehörende Erwachen der Sexualität mit verunsichernden Mitteln beleuchtet; etwa die Fantasy, wenn sie das Aufwachsen in der als sinnentleert empfundenen Realität mit magischen Mitteln beispielhaft diskutiert; etwa die SF, wenn sie gesellschaftliche Entwicklungen in die Metaphern einer unglücklichen oder unterdrückten Gesellschaft fasst.

2 Die einzelnen Anführungszeichen bitte ich unbedingt als unüblichen Gebrauch eines Begriffs zu lesen – Fantasyliteratur gab es im antiken Griechenland nicht. Phantastik wurde damals noch geglaubt (weshalb Platon ja auch den Gyges erfand bzw. aus der mythischen Überlieferung übernahm; die Quellen sind da unklar) und ist aus heutiger Sicht Mythos zu nennen. Aber inhaltlich ist Gyges´ Ring natürlich schon ein Fantasy-Topos, weshalb die Flapsigkeit bewusst eingesetzt wird.