Über Märchen - Tolkiens Sicht des Phantastischen
© Frank Weinreich

In Mythen und Märchen wie im Traume sagt die Seele über sich selbst aus.
(C.G. Jung: Zur Phänomenologie des Geistes im Märchen)

1947 erschien der, allerdings 1937 entstandene und in diesem Jahr an der St. Andrews University vorgetragene (also bevor der HdR geschrieben wurde), Aufsatz On Fairy Stories in einem von C.S. Lewis herausgegebenen Essay-Band; Tolkiens "most discussed piece of argumentative prose" (Shippey 2003, 49) und "the clearest statement of his artistic credo" (Flieger 1997, 2), das Lewis als "perhaps the most important contribution to the subject that anyone has yet made" einschätzte (Lewis 1975b, 26). Unter dem Titel Über Märchen wurde der Aufsatz später übersetzt und bei Klett Cotta in dem Buch Baum und Blatt zusammen mit der Kurzgeschichte Blatt von Tüftler herausgebracht. Über Märchen enthält in komprimierter Form Tolkiens An- und Einsichten in das Wesen phantastischer Geschichten. Einerseits hat er diese aus seiner philologischen und literaturwissenschaftlichen Forschungsarbeit gewonnen andererseits verankerte er sein fiktionales Werk in diesen Grundüberzeugungen zu Sinn und Bedeutung phantastischer Geschichten. On Fairy Stories ist die erste Arbeit seit Aristoteles Poetik, die sich auf akademischem Niveau mit dem Wesen der phantastischen Literatur, mit phantastischen Geschichten befasst (vgl. Flieger 2002, 13).


Wohin führt uns die Phantastik?

I

Phantastische Geschichten sage ich bewußt deshalb, weil die deutsche Übersetzung des Begriffs "fairy-story" als "Märchen" Tolkiens Sicht nicht gerecht wird - sich mir allerdings ein besserer Begriff auch nicht erschliessen will. In diesem Zusammenhang ist anzumerken, daß Tolkien in seinem Aufsatz durchgängig von Fairy-Story spricht - also von der "Feengeschichte" und nicht von fairy-tale, also dem Feenmärchen.

Was ist eine Fairy-Story? Erst einmal - und hier hört man den Philologen deutlich heraus - ist eine Fairy-Story nur eine Geschichte in der Feen bzw. Elfen eine Rolle spielen. Und nicht nur Feen, sondern auch Trolle, Drachen, Zwerge und die ganze typische Reihe der nichtmenschlichen Sagengestalten. Sie umfaßt aber auch Aspekte der realen Welt und die Dinge, die wir real kennen, wie Bäume und Blumen und sogar die Menschen selbst, solange sie nur in gewisser Weise "verzaubert" sind (Über Märchen, S. 18). Doch Tolkien weiss, daß er mit dieser Definition nicht weit kommen kann und schreibt, daß eine positive Definition, also eine umfassende Erläuterung der Merkmale einer Fairy-Story nicht leistbar ist: "Ich will nicht versuchen, [die Natur der Fairy-Story] zu definieren oder geradewegs zu beschreiben; es ginge nicht" (S. 19).

Tolkien definiert deshalb negativ. Er zeigt auf, was er nicht als Fairy-Story gelten läßt. Viele typische Kindermärchen wie die von Aschenputtel oder Rotkäppchen zählen nicht zu den Geschichten, die er in dem auf deutsch als Über Märchen betitelten Aufsatz als Märchen charakterisiert. Er macht dies daran fest, daß diese Märchen zuwenig phantastisches enthielten - daß in ihnen bspw. oftmals gar keine Feen vorkommen. Ich denke jedoch, daß ein unausgesprochenes Kriterium außerdem ist, daß das klassische Kindermärchen zuviel Nutzenanwendung zeigt, hat es doch auch die Aufgabe, den Kindern Gut und Böse als moralische Normen nahezubringen. Ich finde, man kann dies daran ablesen, daß Tolkien Seitenhiebe gegen die moralisierende Wirkung der Kindermärchen einstreut und sie heute als durch Zähmung und Verharmlosung der Inhalte denaturiert bezeichnet.


Keine Fairy-Story ist auch eine Geschichte, deren wesentlicher Gehalt die Satire oder der Spiegel unseres wirklichen Verhaltens ist. Beispielhaft nennt er Jonathan Swifts Geschichten von Gullivers Reisen oder die Abenteuer des Barons von Münchhausen. Der implizite Spott über menschliche Eigenheiten und Eitelkeiten in diesen Geschichten läßt die nötige Ferne des Phantastischen zu sehr vermissen, als daß Tolkien sie als Fairy-Story gelten lassen könnte.


Auch Traumgeschichten wie Alices "Reise ins Wunderland" von Lewis Carroll schließt unser Autor aus dem Kreis der Fairy-Stories ausdrücklich aus und begründet dies damit, daß Fairy-Stories von "Wunderdingen handeln, die keine Einrahmung" zulassen, "die zu verstehen geben, daß die ganze Geschichte [...] frei erfunden oder illusorisch sei" (S. 22). Charakteristisch für alle ausgeschlossenen Typen von Literatur ist ihre Gemeinsamkeit, sich nicht als in eigenem Recht gültig ernst zu nehmen.

Damit kommen wir zu dem eigentlichen Punkt, der zeigt, was das Wesen der Fairy-Stories oder phantastischen Geschichten in Tolkiens Sinn ist. Und wieder kommen wir nicht am Begriff der Zweitschöpfung vorbei. Im Eingangsessay zitierte ich einen Brief Tolkiens an Milton Waldman, in dem er das Wesen der Elben identifizierte: "Ihr Zweck ist Kunst und nicht Macht, Zweitschöpfung und nicht Bezwingen und tyrannisches Re-Formieren der Schöpfung" (Letters, 146). Ohne Abstriche gilt diese Charakterisierung auch für das eigentliche Wesen der Fairy-Story, der Story also, die von den Feen, den Elfen, den Elben handelt. Tolkien bezeichnet die Kunst des Erzählens einer Fairy-Story in seinem Aufsatz auch als elbische Kunst! (S. 54).


II

Ein Wort zur Zweitschöpfung. Das Wesen der Kunst ist das Erschaffen von Dingen oder - nach Tolkien - die Zweitschöpfung. Doch wer dem christlichen Gedanken weniger verhaftet ist, kann an dieser Stelle auch das Wort Schöpfung einsetzen, denn die Vokabel Zweitschöpfung drückt meiner Meinung nach in den Worten Tolkiens den Respekt des Gläubigen vor dem Schöpfungsakt Gottes aus. Die Zweitschöpfung charakterisiert auch sehr gut die Abhängigkeit der Fantasy von der realen Welt, auf die ein Autor - bei aller Phantasie - immer auch zurückgreifen muss. Andererseits halte ich eine Reihenfolge von erstens und zweitens bei der Benennung von realer und erfundener Welt für sehr hilfreich, da die Reihenfolge hilft, Fiktion und Realität auseinanderzuhalten. Etwas später spricht unser Autor - die reale und die zweitgeschöpfte Welt unterscheidend - denn auch von primärer und sekundärer Welt, so daß die Vokabel von der Zweitschöpfung auch ohne religiösen Bezug Sinn macht.

Daß Kunst etwas Neues in die Welt setzt oder erschafft, kann aber auch unterschreiben, wer den Gedanken an einen Schöpfergott ablehnt. Eine Schöpfung, eine Kreation aber, sei es ein Musikstück, ein Bild, eine Statue oder eben eine Fairy-Story muß nach Tolkiens Überzeugung notwendigerweise für sich Wahrheit beanspruchen, sonst ist sie unglaubwürdig. Eine Fairy-Story muß als wahr hingestellt werden (S. 22) und ich denke daß Tolkien damit sagen will, daß sie sich in all ihren Inhalten ernst nehmen und an sich selbst glauben muß.

Die Ausgrenzung des Barons von Münchhausen und von Alice im Wunderland aus der Gruppe der Fairy-Stories, die sich beide eben nicht ernst nehmen, die keine geschichtenimmanente Wahrheit beanspruchen, verdeutlicht dies vielleicht. Natürlich ist jedem Leser und Hörer klar, daß die Handlung des HdR nicht in dem Sinne 'wahr' ist, daß sie in irgendeiner tangiblen Welt oder gar in unserer Primärwelt passiert ist. Aber innerhalb der Sekundärwelt, innerhalb von Mittelerde ist all dies sehr wohl geschehen! Innerhalb der Welt, die Tolkiens Fairy-Story erschaffen hat, hat Bilbo im Jahre 3018 des dritten Zeitalters seinen 111. Geburtstag genauso wahrhaft gefeiert, wie die Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1999 der christlichen Zeitrechnung ihren 50. Geburtstag feierte. Dort ist die Geburtstagsfeier wahr. Und Tolkien definiert als wesentliches Attribut der Fairy-Stories ihre innere Wahrhaftigkeit: "Eine wesentliche Eigenschaft des elbischen Elements im Märchen ist also die Kraft, die Visionen der Phantasie unmittelbar wirksam werden zu lassen" (S. 29; verbesserte Nachübersetzung von mir).

So ernst nimmt sich der HdR und so ernst muß sich eine Fairy-Story nach Tolkiens Definition nehmen. Dies ist auch der Grund, warum sich Tolkien immer wieder gegen eine Allegorisierung seiner Geschichten mit der realen Welt gewehrt hat. Hätte er, wie dies stellenweise vermutet wird - den Ringkrieg als Versinnbildlichung des ersten Weltkrieges geschrieben - von dem bekannt ist wie sehr Tolkien unter den Erfahrungen der Feldschlachten gelitten hat (eine sehr gute Analyse des Einflusses dieses Krieges auf Tolkien findet sich jetzt in John Garths bemerkenswertem Werk Tolkien and the Great War; Garth 2003) -, so hätte er keine Zweitschöpfung geschaffen. Daß Tolkien sein Werk aber als Kunst in dem skizzierten Sinne der Zweitschöpfung gesehen hat, ist unbestreitbar.


III

Von den Lesern und Hörern der Fairy-Stories verlangt Tolkien als Eingangsvoraussetzung, daß sie mindestens sich in einen Geisteszustand versetzen, den Samuel Taylor Coleridge schon 1817 die "willentliche Aussetzung des Unglaubens" nannte (S. 41; Coleridge 1907, II,6: "willing suspension of disbelief"). In vollendung übertrifft die Fantasy dies Ziel jedoch noch bei Weitem und erreicht mehr als nur eine Aussetzung des Unglaubens. Von hier an, von dem Punkte, an dem man den Unglauben an die Fantastik hinter sich lässt, hängt alles von der Qualität der Zweitschöpfung ab, die den anschein von Wahrhaftigkeit erwecken können muss ("a semblance of truth", II,6). Ist die Geschichte schlecht, so wird irgendwann der Unglauben wieder aufkommen und der Leser in die "Primärwelt" zurückkehren. Ist die Geschichte jedoch gut, wird der Leser in der "Sekundärwelt" verharren. Das Kriterium für 'gut' ist dabei die Konsistenz der Sekundärwelt. In ihr ist "wahr, was [der Geschichtenerfinder] erzählt: Es stimmt mit den Gesetzen jener Welt überein" (S. 41). Das beherrschende Motiv ist auch an dieser Stelle, an der Tolkien über die Qualität der Fairy-Stories nachdenkt, das des Geschöpftseins einer eigenen, unabhängigen Welt. Unabhängig natürlich nicht im ontologischen Sinne, aber unabhängig als Kunstwerk, als Schöpfung. Die Zweitschöpfung tolkienscher Provenienz gemahnt an dieser Stelle schon an Hannah Arendts Begriff von der Natalität des menschlichen Handelns.

Fairy-Stories sollen im übrigen alle Menschen ansprechen können. Tolkien sieht ausdrücklich die Kinder nicht als Hauptadressaten der elbischen Erzählkunst: "eine Welt, die auch nur die Vorstellung vom Drachen Fafnir enthält" ist für Kinder wie für Erwachsene gleichermaßen eine "reichere und schönere" Welt (S. 45). Tolkien formuliert zudem eine Gewährleistungsfunktion für Fairy-Stories, deren Erwachsene seiner Meinung nach viel eher bedürfen als Kinder, die auch mittels der Fantasyliteratur dazu in die Lage versetzt werden, mit der Realität besser fertig zuwerden (vgl. Pesch 2001, 178). Die Geschichten sollen nämlich Phantasien, Wiederherstellung, Flucht und Trost gewähren - alle vier Punkte haben Erwachsene nötiger als Kinder (S. 49).



IV

Fantasy
Die Phantasie sieht Tolkien gewissermaßen als Eintrittskarte in die Welt der Fairy-Stories an. Der entscheidende Punkt dabei ist, daß Phantasie nicht alleine vom Geschichtenerzähler verlangt wird, sondern eine notwendige Vorausssetzung auch auf Seiten der Hörer und Leser darstellt. Für Verlyn Flieger ist dies sogar das eigentliche Kennzeichnungskriterium der fairy story: "By Faërie, [Tolkien] means ´fay-er-ie, the place and practice, the essential quality, of enchantment (Flieger 2002, 23), ein Ort der nur erreicht wird, wenn man sich selbst als Leser in der Phantasie dort hin begibt. Der Handlungsfaden ist nur eine Art Richtschnur, an welcher der Erzähler sein Publikum entlangführt. Die geschilderten Welten und Erlebnisse spielen sich im Kopf jedes einzelnen Lesers oder Hörers individuell ab, vorausgesetzt man läßt sich darauf ein, sich für ein paar Buchseiten in eine Sekundärwelt zu begeben. Dieser Punkt läßt sich vielleicht daran illustrieren, daß die Verfilmung eines Stoffes wie des HdR oftmals starke Enttäuschung hinterläßt. Die Enttäuschung, so glaube ich, derer, die die Bücher vorher kannten, rührt hauptsächlich daher, daß die explizite bildliche Darstellung des Filmes, die individuelle Entfaltung der Geschichte im Kopf unterbindet. Man hatte sich beim Lesen des HdR ein Bild von Frodo, Gollum, Gandalf und dem Balrog gemacht. Das kann natürlich mit der Ausführung im Film nicht übereinstimmen, der ja nur die Bilder verwirklichen kann, die der Regisseur von Frodo, Gollum, Gandalf und dem Balrog im Kopf hatte. Tolkien selbst argumentiert in diese Richtung, wenn er vom Theater sagt, daß es dem "Phantastischen von Natur aus feind" sei (S. 52). Phantasien aber, wie sie die Fairy-Stories initiieren, lassen jeden, der sich auf sie einläßt, dadurch auch selbst zum Zweitschöpfer werden. Zu schöpfen, etwas zu erschaffen, hält Tolkien für eine zutiefst menschliche Eigenschaft und für ein Bedürfnis, das erfüllt werden muß. Phantasieren mit Schöpfung gleichzusetzen und beides als ein Definiens des Menschen zu bestimmen, ist ebenfalls ein Topos, der sich in der meiner Meinung nach völlig zutreffenden Anthropologie Hannah Arendts im Zusammenhang mit der Natalität wiederfindet.

Recovery
Die Wiederherstellung, die Fairy-Stories dem Menschen ge­währen, versteht Tolkien als ein Wiedererlangen eines klaren Blicks ("regaining of a clear view"; FS, 53) und beschreibt sie als ein Fensterputzen: "So that the things seen clearly may be freed from the drab blur of triteness or familiarity - from possessiveness" (FS, 53). Neben dem Putzeffekt erlaubt die Wiederherstellung auch einen neuen Blick auf Altbekanntes und ermöglicht es so, das Staunen wieder zu lernen, das wir als Erwachsene in der Routine unseres Lebens oft vergessen, denn Fantasy "transformiert die Realität" (Jackson 1981, 65) und erlaubt so die neuen Ausblicke und Einsichten. Was dabei wieder hergestellt wird, ist das Staunen des Kindes über die neue Welt. Tolkien nähert sich damit stark einer alten philosophischen Position an, der des Griechen Sokrates (470-399 v. Chr.), der das Staunen als den Anfang aller Philosophie verstand. Die Wiederherstellung erwächst daraus, es zuzulassen, dass man sich durch die Erzählkunst verzaubern lässt. Der Schriftsteller G. K. Chesterton hat einmal gesagt, dass das Wort Mooreeffoc es einem ermögliche, sich zu vergegenwärtigen, dass England aus einem anderen Blickwinkel betrachtet ein ganz anderes Land sein kann. Mooreeffoc sieht man in allen Städten und Dörfern Englands dutzende von Malen, man muss nur die Aufschrift Coffeeroom auf einer Glastür bewusst von innen lesen.

Escape
Tolkien unterscheidet zwischen zwei verschiedenen Fluchten, die er als die Flucht des Deserteurs auf der einen Seite und die Flucht des Gefangenen auf der anderen Seite charakterisiert (FS, 56). Der Deserteur ist einfach nur ein Feigling, der weglaufen will - dem Gefangenen aber, kann man den Willen zur Flucht nicht übel nehmen: Why should a man be scorned, if, finding himself in prison, he tries to get out? (FS, 55). Die Flucht des Gefangenen ist mehr Widerstand, als Weglaufen. In eben diesem Sinne versteht Tolkien auch die Fluchtmöglichkeit, die fairy-stories bieten: Als eine Möglichkeit der Erfüllung von Sehnsüchten und Befriedigungen, die die primäre Welt nicht bieten kann.

Consolation
Trost wird dem Leser durch den glücklichen Ausgang gespendet, den Tolkien als notwendig ansieht: Jede fairy-story muss ein glückliches Ende haben (FS, 62). Dieser glück­liche Ausgang, der also garantiert ist, tröstet durch seine Gnade (a sudden and miraculous grace; FS, 62). Keiner der Protagonisten konnte damit rechnen, dass sich alles doch noch zum Guten wenden würde. Der gute Ausgang ist eine Gnade der Erlösung aus den Gefahren und drohenden Katastrophen, die die Geschichte erzählte. Um diesen Punkt hervorzuheben, den er als die highest function (FS, 62) von fairy-stories ansieht, prägte Tolkien den Begriff Eukatastrophe ("eucatastrophy", vgl. Shippey 2000, 206). Das aus dem Griechischen stammende Wort Katastrophe wird dabei mit der ebenfalls griechischen Vorsilbe "eu" (gut, schön, wohl) verbunden und wendet den Begriff ins Positive. Eukatastrophe bedeutet also "gute Katastrophe" bzw. "gute Wendung". Im literarischen Sinne ist die Eukatastrophe das Gegenteil der Tragödie (FS, 62) bzw. der tragischen Wendung.



V

HdR als fairy-story?
Erfüllt der HdR die angebenen Voraussetzungen für eine fairy-story? Zum Aspekt der Zweitschöpfung lassen sich wohl nur wenige Beispiele finden, an denen sich der schriftstellerische Schöpfungsprozess eindrücklicher zeigen lässt. Mittelerde ist eine eigene Welt mit einer Schöpfungsmythologie, einer viele tausend Jahre umspannenden Geschichte, eigener Geografie und Ökologie sowie mehrerer, detailliert erdachter unterschiedlicher Völker, mit eigener Sprache, Physiognomie und spezifischem Charakter. Damit ist Mittelerde außerdem eine eigenständige Schöpfung, die ihren Sinn in sich selbst hat und nicht rückbezüglich auf die reale Welt konzipiert wurde. Die Welt von HdR ist keine Traumwelt, sie dient keinen satirischen Zwecken und will der Primärwelt keinen Spiegel vorhalten oder Lehren für das reale Leben anbieten.



Die Geografin Karen Wynn Fonstad hat einen Historischen Atlas von Mittelerde herausgebracht, anhand dessen sich die ganze Komplexität von Mittelerde erst so richtig erschließt. Der Atlas enthält Zusammenfassungen von S, H und HdR, die durch topographische, historische und Themenkarten illustriert werden, deren Informationsgehalt weit über die der Landkarten in den Büchern Tolkiens hinausgehen, die von Tolkiens Sohn Christopher gezeichnet wurden. Fonstads Karten und Texte verdeutlichen, dass der Entwurf Mittelerdes als einer real existierenden Welt vollkommen plausibel ist. Die Aneinanderreihung der Ereignisse des HdR in Tabellenform und als Eintragung auf Landkarten zeigt, dass die Handlung sich als stringente Geschichtsschreibung darstellen lässt. Der Atlas vermittelt, wie 'stimmig' und 'komplett' Mittelerde erfunden wurde. Die Akribie der tolkienschen Schöpfung zeigt, dass die Ringtrilogie innere Wahrheit beansprucht und als Zweitschöpfung ernst genommen werden soll.

Ob die Geschichte auch überzeugen kann, ob also das Kriterium der Qualität stimmt, muss letztlich jede Leserin, jeder Leser für sich entscheiden. Der HdR als eines der zehn meistverkauften Bücher aller Zeiten zeigt, dass ein großes Publikum offensichtlich überzeugt wurde. Ein bekannter jüngerer Autorenkollege Tolkiens - Tad Williams, der Verfasser der Fantasy-Zyklen Memory, Sorrow and Thorn (erschienen 1988-1993) und Otherland (1996-2001) - bringt den wohl vorherrschenden Eindruck von Mittelerde auf den Punkt, wenn er in der Tolkien-Times vom August 2000 schreibt: "Es war dieser Eindruck von Wirklichkeit, was Mittelerde so überwältigend machte - nicht ein gemütliches 'stellen wir uns mal vor', [...] sondern das sichere Gefühl, etwas so Gewaltiges, Altes, Komplexes mußte auf irgendeine Weise real sein. Natürlich war es real". Was Williams damit meint ist, dass der HdR die Qualität hat, den Leser, der sich auf die oben angesprochene willing suspension of disbelief einlässt, soweit in den Bann zu ziehen vermag, dass Mittelerde in der Lektüre real wird.

Ob die Trilogie die Funktionen Fantasy, Recovery, Escape und Consolation erfüllt, entscheidet sich auch wieder erst im Einzelfall eines konkreten Lesers und dem was er aus dem Buch ziehen kann. Der Fantasie ist durch Mittelerde jedenfalls eine Bühne bereitet, auf der sie sich entfalten kann. Wiederherstellung leistet die Geschichte durch die Welt, die sie beschreibt. Tolkiens Liebe zur Natur spiegelt sich besonders in den Beschreibungen von Landschaften und in der Wirkung, die sie auf die Protagonisten hat. Dabei beschränkt sich Tolkien nicht einmal auf die belebte Natur: Die vielleicht anrührendste Beschreibung legt Tolkien dem grimmigen Zwerg Gimli in den Mund, wenn er ihn Legolas von der Schönheit der Höhlen in Helm´s Deep berichten lässt (Two Towers, 533-535). Die Wiedererlangung der klaren Sicht kann durch Textpassagen solcher Art unterstützt oder ausgelöst werden. Ob Flucht - in Form der widerständigen Flucht des Gefangenen - ermöglicht wird, dürfte, ebenso wie die Funktion des Trostes, in besonderem Maße eine Frage der persönlichen Lektüre von »Lord of the Rings« sein. Flucht - und in gewissem Maße auch Trost - kann man allerdings in der Hinsicht finden, dass man die Erzählung als eine Art 'Urlaub' liest. Flucht und Trost sind dann allerdings etwas zu dramatische Worte für den kleinen Ausstieg aus dem nüchternen Alltag, der mit dem Begriff 'Urlaub' an dieser Stelle gemeint ist.

Keinen Zweifel aber kann es über den ungeheuren Wert der fairy stories und ihrer Erzählungen geben, die dem kreativen Wesen des Menschen zutiefst entsprechen. Das Bewusstsein dieses Wertes war eine der Überzeugungen Tolkiens:

"Fantasy remains a human right: we make in our measure." (FS, 52)




Literatur

(Bochum 10/99)