Plagiate in Mittelerde?
Frank Weinreich



There was Greek, and Celtic, and Romance, Germanic, Scandinavian, and Finnish which greatly affeted me.
(J.R.R. Tolkien: Letters; Letter No. 131)



In letzter Zeit führte ich mehrfach Gespräche oder hatte Korrespondenz über das Thema "Tolkiens Quellen". Nun will ich mich mit diesem kurzen Beitrag nicht intensiv mit seinen Quellen befassen, aber in diesen Gesprächen klang öfter der Verdacht an, dass Tolkien geklaut habe, da man schließlich eine Reihe von Motiven bis hin zu Eigennamen (wie bspw. allen Namen der Zerge aus dem Hobbit) aus älteren Quellen kennt. Weiter heißt es dann machmal, dass Tolkien auf dern anderen Seite aber jede Verbindung Mittelerdes mit unserer Erde zurückweise. Ist das dann vielleicht sogar ein Hinweis darauf, dass Tolkien bewusst verschleiert, wo die Wurzeln seiner Werke liegen, dass er also vielleicht sogar lügt, um seine Originalität hervorzuheben?



In einer Mail der letzten Tage wurde dieses Problem an Tolkiens Aussage aufgehängt, dass er mal behauptete, dass zwischen seinem Ring und dem Ring der Nibelungen keine Beziehung bestünde, außer dass beide Ringe rund seien (die Aussage stimmt; vgl. Letters, Letter No. 229). Saurons Ring und der der Nibelungen haben nichts miteinander zu tun? Haben Sie auch nicht, jedenfalls nicht in dem Sinn wie die Leute es meinten, die damals diese Frage an Tolkien richteten. Die wollten Parallelen zu Wagner und dem deutschen Nationalismus aufweisen und Tolkien - wie so oft - in die arische Ecke stellen.

Und Mittelerde hat wirklich auch inhaltlich nicht viel mit den finsteren Phantasien rund um die Nibelungen zu tun, obwohl natürlich richtig ist, dass Tolkien seine Welt stark an die nordische und germanische Sagenwelt anlehnte (und dies auch nie bestritt, s. bspw. das Motto oben über dem Text). Doch gerade der Unterschied zu den Nibelungen ist groß: die Nibelungen, das ist Tragödie. Alles, was dort angepackt wird, geht schief. Egal wie die Helden sich abrackern, das Schicksal erzwingt ihr Scheitern. Das gibt es ein wenig auch im Silmarillion (die Geschichten von Feanor, Turin usw.) aber eigentlich verkündet Mittelerde und besonders der HdR ein frohe Botschaft: alles wird gut! Und dass alles gut wird, beruht auf der christlichen Grundhaltung Tolkiens, die mit den nordisch und ragnarök-inspirierten Sagen um die Nibelungen unvereinbar ist. Das habe ich in meinem Essay über On Fairy Stories ja detailliert beschrieben: im HdR überwiegt die christliche Heilserwartung bei Weitem und ist ganz klar festzumachen am Begriff der Eukatastrophe und ihrem unübersehbaren Eintreten am Schicksalsberg. (Im Übrigen: trotz aller Tragik im Silmarillion - auch in diesem Werk überwiegt das Heil, schließlich endet die Welt mit der zweiten Musik der Ainur in der Erlösung.)

Die Elemente die oftmals als Indizien für fremde Einflüsse aufgeführt werden (ein Drache mit einer verwundbaren Stelle, Zauberringe, Zwerge und ihre typisch nordisch-germanische Charakterisierung als grummelige Schmiede und Kämpfer, das geborstene Schwert), treten in der Tat auch im HdR (bzw. Hobbit) auf. Das hat Tolkien aber auch nie bestritten. In seinen Briefen, in Vorträgen in den wissenschaftlichen Werken weist der Autor immer wieder selbst auf die bekannten Topoi hin und sagt auch mehrfach: das habe ich daher, das kommt von dort. Es kann also überhaupt keine Rede davon sein, dass er die Leser über die Herkunft seiner Bilder, Symbole und Mythen im Unklaren lässt. Er hat beispielsweise den wichtigsten Kommentar zum Beowulf geschrieben, der dann ebenfalls weltbekannt wurde - da hätte er kaum mit Aussicht auf Erfolg versuchen können, Beowulf-Elemente in Mittelerde zu verheimlichen. Und teilweise sind die Quellen so offensichtlich, dass sie nicht nur klar erkennbar sind, sondern zudem eine tragende Funktion als Tiefenschärfe verleihende Verbindung von realweltlicher und tolkienscher Mythologie dienen, wie bspw. Honegger am Beispiel des wiederkehrenden Motivs des 'Man in the Moon' aufzeigt (Honegger 2003a).

Und ja, er war tierisch genervt durch die Allegorisierungsversuche, deshalb auch die harsche Reaktion auf den Vergleich mit dem Ring der Nibelungen, denn damit sollte ja mehr angedeutet werden als die bloße Aufnahme des mittelalterlichen Motivs. Was er durch die Aufnahme von Sagenmotiven gemacht hat, war aber auch keine Allegorisierung, sondern ein Spiel mit den Elementen der fairy. Fairy (oder Märchen, Fantasy) haben immer schon die gleichen übernatürlichen Motive aufgenommen, die wahrscheinlich in prähistorischer Zeit an dutzenden Lagerfeürn in der ganzen Welt gleichzeitig erfunden wurden, weil die Motive das beschreiben, was Menschen, eben weil sie Menschen sind, überall gleichermaßen fürchteten und bewunderten. Da kann es nicht verwundern, dass Drachen, Macht (in Ringen oder Szeptern oder Talismanen - you name it), Zwerge, geborstene und wieder hergestellte Symbolik usw. immer wieder auftauchen. Tolkien beschreibt, wie Verlyn Flieger sagt, einfach "basics", die zum menschlichen Leben und seiner imaginativen Kraft gehören, es sind "motifs which recur in all mythologies. [...] They recur because they work, because they move the reader and put him in touch with what is timeless" (Flieger 2004, 123).



Wenn man dann heute phantastische Geschichten erzählt, dann kann man gar nicht anders, als diese Elemente a u c h zu benutzen (natürlich in Abhängigkleit vom Kulturkreis des Erzählers). Das ist aber kein Plagiieren oder Allegorisieren, sondern es ist einfach die Sprache, die in Märchen eben gesprochen wird. "NIcht das Motiv ist das wichtigste, sondern die Art, in der es gebraucht wird", sagt Louis Vax (1974, 31). Das Kreative und Neuartige der Erzählung entsteht durch die Anordnung dieser Elemente und die Beziehungen, in die sie gesetzt werden (machmal plus einiger neuer Dinge, wie bspw. der wirklich von Tolkien erfundenen Hobbits), sowie der Art und Weise in der die Handlung aufgelöst wird. Und das kann eben dumpfbackig mit einem Bleistift von einem Ohr zum anderen Ohr gestochen geschrieben sein wie bei John Normans unsäglicher Welt Gor oder genial gelöst und wunderbar erzählt werden wie bei Tolkien.

Kann man Tolkien vielleicht Phantasielosigkeit vorwerfen, weil er ein paar Zwergennamen aus der Kalevala genommen hat und sich aus eines ganzen Handlungsstranges dieses alten finnischen Eposses bediente? Wohl kaum. Eher Liebe und der Versuch etwas zu erhalten und weiter zu tragen. So zumindest bei den Zwergennamen. Und Turin? Das ist nicht nur Kalevala (bzw. Kullervo), sondern auch Sigurd, Ödipus und viele andere (das es aber durchaus entscheidende Unterschiede gibt hat kürzlich Thomas Fornet-Ponse herausgearbeitet; vgl. Fornet-Ponse 2004).

Und Turin ist nur ein Beispiel. Nehmen wir Arwen und Aragorn / Beren und Luthien: das ist natürlich Romeo und Julia. Ist das Phantasielosigkeit? Nein, denn es gibt gar nicht soviele wirklich bewegende Themen in der Gefühlswelt der Menschen - es geht darum, diese paar aufrüttelnden, mitreissenden Topoi so zu erzählen, dass sie wirken - und daran haben sich Erzähler und Schriftsteller überall immer wieder versucht. Die besten Versuche bleiben erhalten und stehen nun nebeneinander zu unserem uneingeschränkten Genuss.



Literatur



(© Frank Weinreich 10/04)