12
Glockenschläge
Frank
Weinreich
Als die große Glocke zu
schlagen anhub, begann Natalie, sich ernsthaft Sorgen
darüber zu machen, in was sie sich da reingeritten hatte.
Angst begann, in ihr hochzusteigen. Dass ihr Ausflug
gefährlich sein würde, war ihr natürlich von Anfang an klar
gewesen. Aber Natalie hielt sich für clever, stark und
erfahren genug, um es mit allen Gefahren aufzunehmen. Dafür
dass sie noch jung war und eigentlich eifersüchtig zu der
selbstsicheren Stärke der Älteren aufblickte, war dies eine
ziemlich hochtrabende Einschätzung – was ihr jetzt, im
dunklen Flur vor dem Treppenhaus auch dämmerte, als die
Glocke hoch oben zu schlagen begann. Zwölf Schläge, dann
nochmals zwölf von der kleinen, helleren Glocke – die
gefährlichste Zeit, jene berüchtigte Stunde, in der laut
der Geschichten immer das Schreckliche geschah.
Einem ersten Ausflug zu dieser Zeit des Tages hatte sie
sich vor der Schlafenszeit allemal gewachsen gefühlt. Nicht
dass irgendetwas Sinnvolles dabei zu erhoffen wäre – nein,
alleine ihrer Neugier wurde hiermit Genüge getan. Und ein
wenig tat sie es auch, um später damit angeben zu können.
Nein, nicht angeben. Aber, man konnte ja mal beiläufig
fallen lassen, dass man den Kreuzgang auch schon einmal zur
verfluchten Stunde gesehen habe. Natürlich nur als Warnung,
als Augenzeugenbericht dafür, dass man dies wirklich
unterlassen sollte. Sie wäre allerdings die eine gewesen,
die diese Warnung voller Lässigkeit hätte aussprechen
können, konnte sie nun doch wirklich darüber urteilen.
„Nein, mein Lieber, ich sage dir, lass es, es ist wirklich
zu gefährlich“, könnte sie dann sagen. Eventuell garniert
mit dem Hinweis: „Ich wäre dabei beinahe in ihre Fänge
geraten.“ Oder wäre das übertrieben dramatisch?
Diese müßigen Überlegungen hatte Natalie in den ersten
Minuten ihres Ausflugs angestellt; jetzt aber erschienen
sie ihr wie ein böses Omen. Denn was, wenn sie wirklich in
deren Fänge geraten würde? Sie wusste natürlich wie alle um
die Gefahren, aber wusste sie wirklich Bescheid? Niemand
war in den letzten Jahren – das glaubte sie zumindest –,
niemand war so verrückt gewesen, einen Ausflug wie den
ihren heute gemacht zu haben. Aber es hatte schon zwei-,
dreimal jene gegeben, die zu lange getrödelt hatten, die
nicht rechtzeitig heimgekommen waren. Das war natürlich
nicht hier in der Burganlage und der Kirche gewesen, wo die
Wege kurz waren, sondern draußen, im Wald hinter dem Dorf
beispielsweise. Aber jene, die zu lange getrödelt hatten,
waren nie wieder zurückgekommen. Überreste hatte es
selbstverständlich nie gegeben – das war ja das eigentlich
Furchtbare an der Vorstellung, dieses Los teilen zu müssen
– aber es bestand kein Zweifel über das Schicksal der
Armen.
Kurz gesagt: Beim Schlagen der
Glocken kam Natalie ihre Idee gar nicht mehr gut vor.
Sollte sie umkehren?
Sie stand jetzt im Treppenhaus vor der Treppe, die sich in
das Dunkle wand. Die Sicherheit des Heimes im Rücken, kam
ihr das Treppenhaus nun wie eine Falle vor. Es kam ihr vor
wie ein Maul, das riesige Kiefer öffnete – so riesig, dass
nicht einmal Zähne zu sehen waren, ohne dass sie das Fehlen
von derem scharfem, weißen Gleißen hätte beruhigen können.
Kiefer öffneten sich mit Treppenstufen, die sich im Dunkeln
verloren. Die bereit waren sie aufzunehmen.
Sie hätte problemlos zurückgehen können. Trotz ihrer
Unbesonnenheit war sie nicht soweit gegangen, mit der
geplanten Tat zu prahlen. Es gab also kein Gesicht zu
verlieren, denn niemand wusste, was sie vorhatte.
Sie drehte sich um, die Tür zum Treppenhaus stand offen.
Sicherheit wartete direkt hinter dieser Tür.
Aber es gab natürlich doch ein Gesicht zu verlieren, denn
ihre schärfste Kritikerin würde ihr das Versagen noch
monatelang um die Ohren schlagen. Sie selbst!
Sie würde schließlich wissen, dass sie hier gestanden und
dann den Schwanz eingezogen hatte. Wegen 12
Glockenschlägen! Sie würde sich erinnern und sich
eingestehen müssen, dass keinerlei reale Gefahr sie
zurückgetrieben hatte. Nur die Treppe, die Glocke und ihre
Einbildung. Ein Treppenabsatz nur und dann vielleicht noch
einer oder zwei. Wäre das damit zu vergleichen gewesen, in
der bösen Stunde draußen geblieben zu sein? Wohl kaum.
Memme!
Natalie betrat die Treppe. Sie sicherte vorsichtig, zögerte
bei jeder Stufe. Aber natürlich war da nichts. Die Glocke
war verstummt, es herrschte Ruhe. Auch auf dem nächsten
Absatz war alles ruhig, die schwere hölzerne Tür dort war
verschlossen. Sie fühlte sich sicherer. Allerdings nicht so
sicher, dass sie es gewagt hätte, die Türe zu öffnen, von
der sie sehr wohl wusste, dass sie kräftig knarrte. Man
musste das Glück ja nicht herausfordern, außerdem gab es
dahinter nichts Spektakuläres, vor allem nichts, von dem
man ehrfurchtgebietend hätte berichten können.
Selbstsicherer huschte sie weiter über die Treppe, den
nächsten Absatz hinter sich lassend, ohne auch nur daran zu
denken, das Treppenhaus hier zu verlassen. Nein, jetzt
wollte sie weiter, wollte ganz ans Ende der Treppe, wollte
einmal zur bösen Stunde einen Blick riskieren, der von ganz
dort ... Hatte es nicht eben geraschelt? Hinter ihr?
Natalie stand unbeweglich auf den ausgetretenen Stufen. Sie
lauschte ... Da war wirklich etwas! Da war ein ganz, ganz
leises Schleifen von Stoff auf Stein zu hören. Ganz so, als
ob ein langes Gewand an der steinernen Treppenhauswand
entlangstriche, weil sein Träger sich bemühte, sich ganz an
dieses anzuschmiegen ... anzuschmiegen, um sich
anzuschleichen.
Natalie spannte sich. Sie würde sich dem stellen! Doch da
hörte sie ein Wispern herüberwehen. Wer immer dort war, er
war nicht allein. Und es gab nicht den geringsten Grund zu
wispern. Nicht für die, nicht zu ihrer Stunde. Wispern
würden die nur, wenn sie auf der Jagd wären. Auf der Jagd
nach ihr!
Was nun? Natalie konnte sich sicher einiges vorwerfen –
Unbesonnenheit, Neugier, ja auch Überheblichkeit; aber ein
Feigling war sie nicht. Doch sich in einem engen
Treppenhaus mit einer unbekannten Anzahl von denen einen
Kampf zu liefern, das hätten nicht einmal die Alten gewagt.
Natalie huschte weiter ... aber ... War es ein Wunder, dass
sie nun Fehler machte? Sie war zu hastig, denn die Angst
trieb sie an. Sie stolperte, fiel. Es war kein lautes
Geräusch und sie schrie auch nicht auf, aber zu überhören
war es von ihren Verfolgern natürlich nicht. Nun wussten
sie sicher, dass sie hier war. Wo sollte sie nur hin?
In ihrer Verzweiflung versuchte sie, die Tür auf dem
nächsten Absatz zu öffnen, ohne genau zu wissen, wo diese
sie hinführen würde. Aber die Tür war verschlossen. Das
unbestimmte Rascheln hinter ihr manifestierte sich zu
eindeutigen Schritten. Schnellen Schritten.
Natalie flog nun über die Treppe. Ein weiterer Absatz.
Dahinter standen die Wände viel enger. Sie hastete weiter.
Aber eines war sicher – in diesem engen Treppenhaus war sie
noch nie gewesen. So weit war sie den Treppen noch nie
gefolgt. Und nun herrschte auch noch die zwölfte Stunde.
Sehen konnte sie fast nichts,
und so hielt sie die Hände vor den Körper. Ein vages Gefühl
sagte ihr, dass sie am Ende der Treppen angekommen war.
Eine letzte Tür? Ja. Und die war verschlossen.
Die Schritte kamen immer näher, die Verfolger wussten, dass
sie in der Falle saß. Da öffnete sich die Tür plötzlich
doch – sie hatte nur geklemmt. Natalie stolperte in den
dahinterliegenden Raum. Etwas stand im Weg, und sie fiel
erneut zu Boden, während sich hinter ihr Gestalten in den
Raum drängten. Hände griffen in ihr langes Haar und rissen
ihren Kopf zurück, Finger mit langen Nägeln bohrten sich in
ihre Schultern. Ein von Wut verzerrtes Gesicht schob sich
vor das ihre. Ihre Flucht die Treppe hinauf war beendet.
Natalie spannte alle Muskeln an, um sich mit ihrer
übermenschlichen Kraft doch noch zu befreien. Da zerrte die
Gestalt vor ihr ein Kreuz aus ihrer Soutane und schrie sie
an: „Brenne Teufel, brenne!“
Jemand riss die Läden von den Kirchturmfenstern, und die
pralle Mittagssonne flutete den Turm mit ihrem Licht. Für
einen kurzen Moment brannte die Vampirin heller als die
Sonnenstrahlen. Dann war es vorbei.
Bochum, 09/08