Fantasy, ein
Menschenrecht.
Gedanken über ein Stiefkind der Literatur.
© Frank
Weinreich
It seems to be suggested
that fantasy is some kind of fairy icing
when, from a historical point of view, it is the whole
cake.
(Terry Pratchett)
Der Satz „Fantasy ist ein
Menschenrecht“ (i. Orig. „Fantasy is a human right“, FS 52)
entstammt dem einflussreichen Aufsatz Über Märchen / On
Fairy Stories von J.R.R. Tolkien aus dem Jahr 1937.
Tolkien meinte damit zwar nicht das Genre der
Fantasyliteratur (das war damals noch gar nicht unter
diesem Begriff bekannt), sondern er benutzte den Ausdruck
wörtlich im Sinne des deutschen Wortes „Phantasie“, aber
etwas Provokation sei mir hier erlaubt. Sie werden sehen,
die folgenden Überlegungen enthalten noch mehr davon.
Warum aber will ich provozieren? Kurz gesagt, weil die
Fantasyliteratur meiner Beobachtung nach allzu oft zu
Unrecht abgewertet oder diffamiert wird und mir das schon
seit einiger Zeit drückend und drängend im Magen liegt.
Entgegen weit verbreiteter Meinung, besonders innerhalb der
professionellen und gelehrten Literaturkritik, Fantasy sei
kindisch, eskapistisch, belanglos, gefährlich,
Zeitverschwendung und überhaupt Trash, halte ich die
Inhalte und die Erzählweise der anspruchsvollen Fantasy für
ausgereift, erholsam, aussagekräftig, bedeutungsvoll und
erachte sie als wichtigen Teil meines bzw. sogar des
Lebens. Bedeutungsvoll und wichtig meint dabei, dass die
Geschichten und Erzählungen der „Gattung“ Fantasy (Pesch
2001, zum Gattungsbegriff und den Problemen seiner
Definition unten mehr) Relevanz für das Leben in der realen
Welt haben können, dass sie die reale Welt kommentierend
bereichern (L, 297, Hunt 2001, 7).
Die potenzielle Tragweite der
phantastischen, märchenhaften Welten von Tolkien und
anderen Schriftstellern und Schriftstellerinnen als
„ernsthaftes Spiel“ aufzuzeigen (vgl. Petzold 2005, 11),
ist das Anliegen dieses Aufsatzes. Doch bereiten Sie sich
darauf vor, dass dies nicht im defensiven Stil einer
Apologie geschieht, die auf „Spuren konkreter Realität“
(v.d. Bergh 2005, 26) in der Fantasy hinweisen möchte,
sondern dass dies im selbstbewussten Auftreten der Polemik
erfolgt, hat doch die Fantasy keinen Grund, sich innerhalb
des glänzenden Kosmos des kulturellen Schatzes der
Menschheit versteckt zu halten. Es ist eben, Tolkiens
Beobachtung bereitwillig folgend, ein Recht, dass nun sein
Haupt erheben soll.
Was ist das – Fantasy?
Was von Anfang an nicht ganz unproblematisch ist, denn was
ist die Fantasy überhaupt? Selbst der vielleicht beste
deutschsprachige Kenner der Fantasyliteratur, der Germanist
Helmut W. Pesch, hat Schwierigkeiten, zu einer Definition
zu kommen. Man kann es sich mit Eric Rabkin zwar relativ
leicht machen und Fantasy als eine historisch verortbare
Realisation1 des Phantastischen
bezeichnen (Rabkin 1976, ix), aber was wäre damit für
das inhaltliche Verständnis der Gattung gewonnen? Damit
ist ja nichts weiter als eine von außen heran getragene
Zuschreibung gemeint, die nicht viel mehr hergibt als
eine weitere nichts sagende Aussage, ähnlich des
Bonmots, dass Fantasy das sei, was die Verlage unter
diesem Namen auf den Buchmarkt werfen. Doch wie nähert
man sich dieser literarischen Gattung am besten an.
Man kann ja zunächst einmal klassisch vorgehen und sie
innerhalb der literarischen Großformen einzuordnen
versuchen. Gehört Fantasy zu Lyrik, Epik oder Dramatik?
Lyrik, also die Versform kommt zwar in der Fantasy und
besonders bei Tolkien immer wieder vor, aber das ist sicher
nicht die gesuchte Gattungsform. Die Dramatik bezeichnet
bekanntermaßen jegliche Form von Theaterstücken und ist
auch nicht gemeint. Fantasy gehört also zur Epik, nur
bringt uns diese Bestimmung nicht wirklich weiter, denn
schließlich sind unter dem Begriff der Epik alle Formen des
mündlichen und schriftlichen Erzählens zusammengefasst. Die
Erzählformen sind in der Literaturwissenschaft zwar in
höchster Weise ausdifferenziert worden, nur hilft das
ebenfalls nicht viel weiter, da die
Differenzierungskriterien von der Fantasyliteratur leider
nicht eingehalten, sondern immer wieder und auf
mannigfaltige Weise überschritten und miteinander
kombiniert werden. Letztlich ist es dieser Weg, auf dem die
Literaturwissenschaft dann zu der wenig aussagekräftigen
historischen Verortung gekommen ist (vgl. Pesch 2001, Kap.
2.1).
Ertragreicher dürfte es sein, zu versuchen, die Fantasy
inhaltlich zu definieren, indem man einige Elemente als
typisch bestimmt, die in der Fantasy vorkommen müssen, um
sie dazu zählen zu können. Und in der Tat gibt es eine
ganze Reihe solcher Bestimmungen, die, wenn man sie
zusammenfassend betrachtet, auch drei Punkte an die Hand
geben, die eine inhaltliche Definition des Genres
wenigstens leidlich ermöglichen. Dies sind
- der Held oder die Heldengruppe,
- die imaginäre Welt und
- die Magie.
Den oder die Helden – oder abstrakter
gefasst – Personen, die abenteuerliche Handlungen zu
bestehen haben, trifft man natürlich in nahezu allen
Erzählformen an, aber für die Fantasy sind sie immer
konstitutiv, da diese Personen immer auch die
Handlungsträger sind. Dieses Element umfasst auch negative
Helden, scheiternde Helden und unscheinbare Helden, aber
immer sind es Personen in abenteuerlichen Situationen, die
die Handlung vorantreiben. Trotzdem wäre die Person des
Helden allein sicherlich gänzlich ungeeignet, ein
literarisches Werk als zur Fantasy gehörig zu bestimmen,
wenn dies alles wäre, was in der Person des Helden
enthalten ist. Von gleichrangiger Bedeutung wie die
Existenz des Helden oder einer Gruppe von Helden in einer
abenteuerlichen Situation ist aber, dass die Helden
übermenschliche Aspekte aufweisen. Sie sind entweder selbst
mit übermenschlichen Fähigkeiten ausgestattet oder verfügen
über Hilfsmittel – etwa magische Waffen oder Unsichtbarkeit
verleihende Ringe, Helme oder Gürtel und Ähnliches –, die
ihnen gestatten, normalerweise existierende menschliche
Beschränkungen zu überwinden. Auf den ersten Blick mag das
gerade im Falle des HdR problematisch erscheinen, da
beispielsweise Aragorn und Frodo ganz normale Menschen zu
sein scheinen, die auch keine besonderen Gegenstände ihr
Eigen nennen. (Klar, Frodo hat den Ring – aber man kann ja
nun wirklich nicht sagen, dass der ihm hülfe.) Aber
natürlich haben auch diese beiden Figuren übermenschliche
Fähigkeiten: Frodo die des Erduldens von Leid und Druck,
Aragorn wird spätestens im Rahmen der Krönungszeremonie in
Die Rückkehr des Königs von Tolkien kitschig überhöht. Der
Held in der Fantasyliteratur ist also nicht nur durch das
bloße Vorhandensein charakterisiert, sondern auch durch
phantastische Eigenschaften.
Die imaginäre Welt als zweites Element
muss nun nicht eine komplett von unserer Erde getrennte
Welt oder sogar Dimension sein, wie dies etwa die Welt
Krynn aus den Erzählungen der Drachenlanze darstellt. Ganz
im Gegenteil behaupten viele Fantasygeschichten, in unserer
Welt zu spielen, nur in einer anderen Zeit, etwa Robert
Howards Conan, dessen Abenteuer ca. 12.000 Jahre vor
unserer Zeit aber auf der Erde spielen. Oder sie berichten,
dass es parallele Realitäten gibt, auf die man von unserer
Welt aus zugreifen kann. Das können einige relativ kleine,
umgrenzte Orte wie die Zauberschulen Hogwarts und Beaux
Bâtons aus den Harry Potter-Romanen von J.K. Rowling sein
oder es handelt sich um komplette Welten, die auf der
anderen Seite der Ekliptik liegen, wie die so genannte
Gegenerde Gor von John Norman. Oder sie können auf einer
anderen, mehr oder weniger unbestimmten Realitätsebene
gefunden werden wie das Narnia von Tolkiens Freund C.S.
Lewis. Tolkiens Mittelerde ist der bekannteste Vertreter
einer Fantasiewelt, die mit der unseren angeblich identisch
und doch imaginär ist, handelt es sich doch der
Überlieferung des Roten Buches nach um unsere Welt in einer
unbestimmbaren Vergangenheit, in mystischen 'anderen
Zeitaltern', die das Imaginäre der Welt ausmachen. Immer
handelt es sich aber um Welten, die auf irgendeine Weise
mit der empirischen Realität der Welt, in der wir Leser
leben, in einer Weise gebrochen haben, dass ein Zugang zu
ihr aus Sicht der Erzählung nicht möglich oder nur
ausgewählten Personen möglich ist und aus Sicht der
Naturwissenschaften prinzipiell unmögliche Umstände
beinhaltet. Es handelt sich eben um phantastische Welten.
Die Magie trifft man meistens zusammen mit
vortechnologischen Gesellschaftformen oder historischen
Settings an, in und unter denen die Fantasyhandlung spielt.
Die 'kritische' Technologieschwelle, die dabei nicht
überschritten wird, ist in der Regel die Erfindung von
Schwarzpulver und Dampfmaschine, auch wenn es zuhauf
Beispiele auch für eine Überschreitung dieser Schwellen
gibt.2 Und letztlich ist
zumindest im Dritten Zeitalter Mittelerdes ja das
Schwarzpulver auch schon erfunden worden, denn Gandalf
und Saruman verstehen sich beide auf dessen Nutzung.
Entscheidend ist aber nicht der technologische Stand,
sondern die Magie, als eines Faktums – Fantasy erzählt
Geschichten, in denen Magie wirklich
funktioniert.3 Das Wesentliche ist
dabei nun natürlich nicht der Werkzeugcharakter der
Magie. Im Rahmen einer Abenteuergeschichte ist es
zunächst einmal egal, ob der Held mit magisch erzeugten
Feuerpfeilen beschossen wird oder sich unter einem
Kugelhagel ducken muss. Das Wesentliche ist, dass mit
Hilfe der Magie auch wieder ein Bruch mit der Realität
erzeugt wird wie dies schon durch die imaginäre Welt und
den übermenschlichen Helden geschah.
Die Magie führt nun von den drei inhaltlichen Bestimmungen
fort zu einem weiteren inhaltlichen Umstand, der sich dann
im Anschluss an die drei genannten Elemente als deren
Qunitessenz und das jenige Charalkteristikum bestimmen
lässt, das die Fantasy ausmacht: das Vorhandensein des
Übersinnlichen. Das Übernatürliche ist in der Fantasy
vorhanden und es ist wirksam – es ist ein Faktum mit dem
ontologischen Anspruch auf Faktizität, auch wenn es mit dem
realweltlichen Vokabular und Erkenntnisstand nicht erklärt
und rational verstanden werden kann. Robert A. Heinlein hat
es deshalb auch einmal „unexplained impossibility“ genannt
(Heinlein 1953, 1188). Damit sind die Fantasy und die von
ihr beschriebenen Ereignisse und Welten definitiv nicht
Bestandteil der empirischen Welt. Fantasy ist immer auch
Metaphysik, ihre Erzählungen sind metaphysisches Spiel oder
Spekulation. Und daraus lässt sich nun doch eine Definition
von Fantasy ableiten, genauer gesagt zwei Definitionen,
eine weitgefasste und eine engere Definition. Beruhend auf
dem Charakteristikum, dass Fantasy metaphysische Annahmen
als Faktum hinstellt und weder ironisch noch in anderer
Weise bricht, kann in einer weitgefassten Definition von
Fantasyliteratur alles das als zur Fantasy gehörig gefasst
werden, dass ebensolche Annahmen enthält und als Tatsache
ausgibt. So gesehen sind dann nicht nur Der Herr der Ringe
oder die derzeit ungeheuer populäre Filmreihe Fluch der
Karibik oder die Harry Potter-Romane mit ihrer
Parallelweltannahme Fantasy, sondern auch die Bibel, der
Koran und eine ganze Reihe anderer Erzeugnisse menschlicher
Wissens- wie Erzählkultur.
Diese Breite der Fantasymotive
und des Übersinnlichen in der Literatur wiederum verweist
aber auch darauf, dass die weitgefasste Definition von
Fantasy nicht befriedigen kann, da sie, zuzüglich aller
möglichen Missverständlichkeiten, das Genre nicht scharf
genug umreißt. Trotzdem ist die weite Fassung nötig, da sie
den Blick unerbittlich auf die unabdingbare
Zusammengehörigkeit von Erzählung und Übernatürlichem als
metaphysischen Inhalten der Fantasy lenkt. Die wichtigste
Bedingung der engeren Definition von Fantasy ist, dass die
Geschichten und Erzählungen eben solche sind – Geschichten,
Erzählungen, Romane, also Texte, Filme, Spiele, die keinen
nach außen weisenden Anspruch auf Wahrhaftigkeit erheben.
Was der Autor, die Autorin da erzählen, ist innerhalb der
Geschichte wahr. Dieser Wahrheitsanspruch gilt jedoch nur
für die erschaffene fiktionale Welt. Kein Erzeugnis der
Fantasy erhebt für sich den Anspruch, auch nach außen hin
wahr zu sein, also Realität darzustellen. Kein Mensch bei
klarem Verstand, erst recht nicht die Autorinnen Margaret
Weis und Tracy Hickman oder Raymond Feist und Janny Wurtz,
behauptet dass die Welt der Drachenlanze, Krynn, oder die
Welten der Riftwar-Saga Midkemia und Kelewan wirklich
Bestandteil unseres real existierenden Universums sei. Das
gleiche gilt für Fantasywelten und -bereiche, die angeblich
Bestandteil der realen Welt sind oder waren. Tolkien hat
Mittelerde nicht ernsthaft als historische Realität
aufzeigen wollen. Lord Dunsany hat vom Lande Erl nur
behauptet, dass es irgendwo auf unserer Welt läge und doch
war immer klar, dass dies in Wirklichkeit natürlich nicht
zutrifft. Und entgegen anderslautender Berichte dürfte es
wohl niemanden geben, der auf dem Bahnhof King´s Cross
ernsthaft nach dem Zugang zum Bahnsteig 9¾ sucht. Die
Geschichten der Fantasy geben sich als Fiktion zu erkennen.
Fantasy in ihrer engen Fassung ist demnach ein
literarisches (sowie mehr und mehr auch cineastisches und
in weiteren Ausdrucksformen auftretendes) Genre, dessen
zentraler Inhalt die Annahme des faktischen Vorhandenseins
und Wirkens metaphysischer Kräfte oder Entitäten ist, das
als Fiktion auftritt, die als Fiktion auch verstanden
werden soll und muss; Fantasy ist, wie auch das Märchen und
der Mythos, „metaphysische Literatur“ (Suvin 1979, 42).
Diese Definition ist immer noch sehr weit gehalten und kann
unter ihrem Dach eine Vielzahl von Erscheinungsformen der
Fantasy beherbergen. Tatsächlich ist das Feld der Fantasy
auch recht groß und hat eine ganze Reihe von weiteren
Untergattungen oder Typen ausgebildet, etwa Sword &
Sorcery oder Science Fantasy.
Es handelt sich in allen drei die Fantasy inhaltlich
definierenden Fällen sowie natürlich im wesentlichen
Charaktzersitikum des Genres, des Übersinnlichen, um die
Einführung beziehungsweise Nutzung des Phantastischen als
eines die Realität des Publikums überschreitenden Moments.
Dass das dann der Grundstein für nahezu alle
unqualifizierte Kritik am Genre ist, werde ich im Folgenden
zeigen. Zunächst erhebt sich angesichts der inhaltlichen
Bestimmung der Fantasy jedoch die Frage, ob man dann das
Genre noch historisch seit der Mitte des letzten
Jahrhunderts und ästhetisch auf dem Niveau von
Groschenheftromanen ansiedeln kann.
Ist die Fantasy ein Erzeugnis des 20. Jahrhunderts? Was ist
aber mit einem der ältesten Zeugnisse menschlicher Kultur,
was ist mit dem babylonischen Gilgamesch-Epos? Er handelt
von einem Helden mit eindeutig übermenschlichen physischen
Fähigkeiten. Er spielt in einer zeitlich versetzten Welt,
die einen Bruch zu der physischen Realität darstellt, in
der der Mythos tradiert wurde. Das Epos beinhaltet
vielfache magische Anwendungen und magisch ausgelöste
Ereignisse. Was ist daran nicht phantastisch, was nicht
Fantasy? Und muss man diese Frage dann nicht auch an die
homerischen Epen richten? An die Artussage? An die
nordischen Sagas und das alte germanische Erzählerbe rund
um Kriemhild, Siegfried, Dietrich von Bern und wie sie alle
hießen? Und muss man das dann nicht auch die Werke von
mittelalterlichen, neuzeitlichen und frühmodernen Erzählern
und Schriftstellern wie Ariost, Chaucer, Milton, E.T.A
Hoffmann fragen? Phantastische Geschichten, die einige bis
alle Elemente der inhaltlichen Bestimmung der Fantasy
aufweisen, sind durchaus nicht auf das Zwanzigste und
Einundzwanzigste Jahrhundert beschränkt und sie lassen sich
– oh Wunder - auch auf den 'respektablen' Regalen der
Stadtbücherei finden.
Was der Fantasyliteratur vorgeworfen wird
Diese Überlegung führt dann auch ganz schnell zur Frage der
Qualität solcherart mit der Fantasy verwandten (oder gar
ihr zugehörigen?) Literatur. Gehen wir noch einmal ganz
zurück. Homer? Ilias? Odyssee? - da war doch was? Schaut
man in ein beliebiges allgemeines Lexikon, wie
beispielsweise Encarta, so springen einem Beurteilungen wie
„wichtigste[s] altgriechische[s] Epos“ und „Klassiker der
antiken Literatur“ entgegen (Encarta 2004, Stichwort
Homer). Folgt man der oben getroffenen Definition von
Fantasy steht also tatsächlich ein Werk dieser
Literaturgattung nicht nur am Anfang der
Literaturgeschichte, sondern gilt auch heute noch als eines
der exzellentesten Beispiele abendländischer Hochkultur.
Und nicht zu Unrecht, wird hier doch in zeitlos gültiger
Weise über die bewegendsten und wichtigsten Elemente des
Menschseins nachgedacht: Liebe, Freundschaft, Macht,
Persönlichkeit - die Themen sind heute ebenso wichtig (oder
"banal"; Roth 2003, 13) wie damals und sie werden so
wichtig bleiben.
Doch bleibt der pauschalen
Fantasykritik nicht noch der sichere Ausweg, darauf zu
verweisen, welcher ästhetisch-inhaltlichen Degeneration die
moderne Fantasy gegenüber ihrem klassischem Beginn und der
Fortführung durch 'richtige' Dichter unterzogen wurde?
Sicher – das kann sie anführen und sie führt es ins Feld.
Fantasy ist nach vielfacher professioneller Meinung
eskapistisch, flach, kindisch, belanglos und in ihren
schlimmeren Auswüchsen – etwa bei Tolkien – zudem von
gefährlicher politischer Wirksamkeit, propagiert sie doch
Chauvinismus, faschistisches Gedankengut und Rassismus.
Die kritischen Hinweise auf die politisch-/
gesellschaftlich bedenklichen Inhalte von Fantasy kann man
nicht pauschal behandeln. Hier muss jedes Werk einzeln
untersucht werden, denn es gibt in der Fantasyliteratur ein
ebenso breites Spektrum der Meinungen und Darstellungen wie
in aller anderen Literatur auch. Und es gibt natürlich auch
bedenkliche Werke – ich will hier nur den schon erwähnten
John Norman und seine Welt Gor nennen, die einen
ausgeprägten bis ekelhaft sexistischen Chauvinismus in Form
ständig wiederholter unterwürfiger Frauenideale zur Schau
stellt. Aber Einzelkritik kann und soll hier eigentlich
nicht geleistet werden. Dass die genannten Vorwürfe
gegenüber Tolkiens Mittelerde kaum haltbar sind, möchte ich
jedoch knapp zusammenfassend nochmals4 festhalten.
Der Vorwurf des Rassismus bezieht sich darauf, dass
einerseits die Helden des HdR von typisch europäischer
Erscheinung sind, während andererseits die bösen
menschlichen Völker aus dem Osten und Süden kommen, klein
und von dunkler Hautfarbe sind und teilweise geschlitzte
Augen aufweisen. Aber so kann und muss man einwenden: 1.
Das Böse ist von ursprünglich engelhafter Herkunft. 2.
Sauron, Saruman und wahrscheinlich auch alle Nâzgul sind
ebenfalls Weiße. 3. Hobbits weisen keinerlei als
wünschenswert arisch zu bezeichnende Merkmale auf. 4. Das
Böse befällt auch die blonden, hochgewachsenen Recken von
Rohan und Gondor. 5. Dass der Ring überhaupt vernichtet
werden kann, hängt von der Zusammenarbeit und Freundschaft
der gemischtrassigen Freundesgruppe von Menschen, Elben,
Hobbits und Zwergen ab.
Bezüglich des Faschismusvorwurfes und seiner nur leichten
Abmilderung, Tolkien propagiere eine feudalherrschaftliches
Weltbild, heißt es dann, der HdR feiere aristokratische und
feudalistische Ideale und stütze autoritäre
Handlungsweisen. In der Tat ist es schon so, dass Teile der
Handlung durch starke und adlige Charaktere vorangetrieben
werden, bspw. Aragorn, König Théoden und Boromir. Aber die
Entscheidung bringen gerade die kleinen und sich selbst
unsicheren Gestalten wie Bilbo, Frodo, Sam und sogar
Gollum. Demgegenüber spielt ein allerdings faschistisch
anmutender Macher wie Boromir durch seinen Autoritarismus
und seinen Glauben an die eigene aristokratische
Überlegenheit dem Bösen in die Hände. Die wesentliche
politische Aussage des HdR, so man denn unbedingt eine
hineinlesen will (vgl. dazu Weinreich 2006), ist doch die,
dass autokratische Machtvollkommenheit in das Verderben
führt. Es wäre für Elrond, Galadriel und Gandalf doch viel
einfacher gewesen, den Ring und damit alle Macht zu nehmen.
Aber gerade dieses Ding – die absolute Macht – hätte doch
auch sie korrumpiert. Faschismus? Hallo – wo denn?
Die Handlung des HdR wird zu nahezu hundert Prozent von
Männern getragen. Ja, stimmt. Aber ist das dann
Chauvinismus oder wenigstens Paternalismus? Vielleicht –
wenn man es so liest, dass Tolkien durch die einseitig
männliche Besetzungsliste Frauen die Chance nimmt, auf die
Geschehnisse, die schließlich alle Bewohner Mittelerdes
betreffen, gleichberechtigt Einfluss zu nehmen. Gut. Was
aber meiner Meinung nach nicht geht, ist, der Handlung
Sympathien für Paternalismus und diesem folgend
Chauvinismus vorzuwerfen. Paternalismus definiert sich als
autoritäre Bevormundung anderer und Chauvinismus ist eine
direkte Steigerung davon. Für diesen Vorwurf gilt aber das
Gleiche, was ich soeben über den faschismusimmanenten
Autoritarismus gesagt habe: Wo dieser im HdR vorkommt, wird
er als falsch gebrandmarkt oder der Verstoß gegen
paternalistische Anwandlungen bewirkt etwas Positives,
siehe Éowyn und Merry. Und Beispiele aktiver,
frauenverachtender Aussagen, wie sie für den Chauvinismus
typisch sind und beispielsweise zuhauf in John Normans
Romanen auftauchen, findet man in der Mittelerdedichtung
überhaupt nicht.
Die genannten Kritikpunkte können wie gesagt nur angesichts
bestimmter Werke beurteilt werden – auch wenn sie
mancherorts pauschal erhoben werden. Genreumfassend lässt
sich jedoch die Kritik behandeln, die der Fantasy vorwirft,
eskapistisch zu sein beziehungsweise dem unterstellten
Eskapismus seiner Leser Gelegenheit und Anlass zu gewähren.
Ebenso lässt sich, in Grenzen, über den Pauschalvorwurf der
Flach- oder Dummheit von Fantasy verhandeln sowie über das
damit verwandte Urteil, dass Fantasy kindisch, dass sie
Jugendschund sei (Wilson 1984, 56). Verwandt damit ist dann
noch der letzte Vorwurf, dass Fantasy belanglos und damit
immer auch Zeitverschwendung sei.
Die wichtigste dieser Fragen ist wahrscheinlich die, ob man
der Fantasy Eskapismus, beziehungsweise dessen Förderung
oder Verursachung, vorwerfen kann. Denn aus der Antwort,
die ich hierauf geben möchte, ergeben sich eine Reihe von
Antworten auch für die anderen Kritikpunkte. Ich hatte oben
festgehalten, dass das gemeinsame Merkmal der die Fantasy
definierenden Elemente – Held, imaginäre Welt und Magie –
das Überschreiten der realweltlichen Grenzen unserer
Erfahrung ist. An genau diesem Punkt setzt auch die
Eskapismuskritik an. Sie lässt sich knapp in dem Vorwurf
zusammenfassen, dass die Verlagerung von Erzählungen in
Welten, die mit der Realität gebrochen haben und von
Handlungen, die auf Grund des Einsatzes von Magie oder
übermenschlicher Fähigkeiten keinen Realitätsbezug mehr
aufweisen, Wolkenkuckucksheime errichten. Diese
Phantasiegebilde befördern die Leserin, den Leser aus der
Realität hinaus und bieten erstens keinerlei Nutzwert oder
Lerneffekt für das reale Leben. Zweitens führen sie dazu,
dass das Publikum sich der Wirklichkeit und ihren
Anforderungen verschließt und damit graduell
lebensuntüchtiger wird als dies ohne die Lektüre der Fall
gewesen wäre.
Obwohl – was die Bedeutung einer Sache für mich angeht, das
kann doch wohl nur eine individuelle Zuweisung sein. Jeder
muss die Dinge in der Welt selbst auf ihre persönliche
Relevanz hin beurteilen. Deshalb spricht aus einem pauschal
erhobenen Vorwurf des Eskapismus, der ja darauf hin
ausgedehnt wird, dass die Kritik ein Werk wie den HdR als
für mich irrelevant und sogar schädlich bestimmen zu können
glaubt, nicht viel mehr als Arroganz, gepaart mit Zynismus
und Snobismus. Nein, ich kann ganz gut selbst beurteilen,
ob ich Schaden an der Fantasy nehme.
Doch will ich das Thema auch ganz ernsthaft und
unpersönlicher behandeln. Was die Bedeutung der hohen oder
wichtigen Literatur ausmachen soll ist ja angeblich, dass
man aus ihr, wie auch immer, Lehren zieht, die der
persönlichen Entwicklung weiterzuhelfen vermögen. Literatur
verhilft zu allgemeiner, zu spezieller, zu Herzens- und zu
Charakterbildung. Das tut sie durch Reflexion von
realweltlichen Umständen und Ereignissen in Form von
Hinweis, Warnung oder Anleitung. Okay, und das finden wir
also in der Fantasy alles nicht? Statt dessen befördert sie
nur die Weltflucht? Weil sie so irreal ist, weil sie immer
nur Traum ist, Träume aber Schäume sind?
Die Kritik vergisst dabei aber
gerne, dass die phantastische Literatur – und innerhalb
diesen Gebietes ganz besonders das Genre der Fantasy –
anderen Gesetzen folgt als die realistische Literatur. Sie
zeigt mit der Übertretung der Realität in Richtung Magie
und Supernaturalität der realen Welt einen Spiegel, indem
diese sich nur verfremdet, überzeichnet und eventuell
stereotyp wieder erkennen kann. Das ist eine andere Methode
als die der präzisen psychologischen Charakterzeichnung in
der Gegenwartsliteratur, aber es ist eine bewusst
eingesetzte und legitime Methode. Und es ist eine Methode,
die den Bezug zur realen Welt erhalten hilft.
Und dieser Bezug kann ja auch gar nicht vollständig
gebrochen werden, weil jede Autorin, jeder Autor zunächst
Mensch in der realen Welt ist und nur aus der Realität und
aus den in ihr gemachten Erfahrungen Phantastisches
entstehen lassen kann. Dazu sagt Dieter Petzold sehr schön:
"Jeder Autor fiktionaler Texte [...] schafft durch sein
Schreiben eine eigene Welt. In dieser Schöpferfunktion
gründet eine fast unermeßliche Freiheit, die, so groß sie
ist, allerdings niemals absolut sein kann" (Petzold 1984,
123). Denn der Autor kann nur aus der Realität seiner
Erfahrungen schöpfen, die immer im empirischen Erleben der
Realität ihren Urgrund haben; „alle seine fiktiven Welten
[müssen] auf diese Realität bezogen bleiben“ (Petzold 2005,
53). Der Bruch mit der realen Welt findet also genau
betrachtet nie statt. Manchmal stehen die phantastischen
Welten sogar hinsichtlich bestimmter Aspekte der Realität
besonders nahe und sei es auch als beißende Kritik.
Gerade Tolkien verbindet in der Mittelerdedichtung
Realitätskritik (ich nenne nur: Umweltzerstörung,
Machtmissbrauch, Technologiekritik) mit entgegengesetzten
Idealisierungen von naturverbundenen Lebensweisen (der
Hobbits, der Elben, der Ents) und positiver Anarchie (das
Auenland). Diese Idealisierungen stellen einen stark
übertriebenen Kontrapunkt zu den Schrecknissen der Vision
von Mordor und Sarumans Isengard dar, der als Kontrapunkt
aber auch in die reale Welt zurückspiegelt (vgl. Petzold
2005, 54). Die Kritik, die man hier üben könnte, wäre aber
dann nicht die, dass Fantasy eskapistische Tendenzen
auslöst oder fördert. Denn es besteht gerade in diesen
Punkten ja ein starker Rückbezug zur realen Welt. Der Leser
der Fantasybücher wird durch die übertriebenen Schrecknisse
in Form von Macht missbrauchenden Zauberern, von Welten
verschlingenden Dämonen und tyrannischen Herrschern ja
geradezu dazu aufgefordert, zur dargestellten Problematik
Stellung zu beziehen. Eskapismus wäre das dann gerade
nicht.
Die meiner Meinung viel näher liegende Kritik müsste in die
Richtung gehen, auf die Holzhammermethoden der Autorinnen
und Autoren hinzuweisen, auf die Naivität, die sich in
schlichten Schwarz-Weiß-Schilderungen von Gut und Böse
ausdrückt, auf die Flachheit, die sich dadurch im Genre der
Fantasy zeigt. Beispiele dafür ließen sich schon finden ...
wie es Beispiele für 'schlechte Schreibe' eben in allen
Literaturgattungen zu finden gibt. Doch wir reden ja nur
über die Fantasy und ihre Flach- und Dummheit. Mit Petzold
kann man nun zur Kritik an den angeblich flachen Büchern
sagen:
"Die vorherrschende Flachheit der Charaktere und
Begrenztheit der Weltdarstellung als Mängel zu rügen hieße,
das Werk mit falschen Maßstäben zu messen, nämlich nach
Kriterien, die aus der realistischen Literatur abgeleitet
sind. Es ist ein Kennzeichen der nicht-mimetischen
Gattungen, daß sie an bestimmten Aspekten nicht
interessiert sind; wollte man ihre Abwesenheit beklagen, so
handelte man wie einer, der an einem Holzschnitt Farbe und
Schattierung vermisst. Der Reiz dieser Art von Literatur
liegt, wie beim Holzschnitt, gerade in der Freiheit, welche
der Fantasie durch den Verzicht auf realistische Details
gewährt wird." (Petzold 2005, 54f.).
Und, so möchte ich dem hinzufügen, wer solche Bilder nicht
mag, soll sie sich halt einfach nicht anschauen, statt wie
gebannt zu starren und zu nörgeln wie C.N. Manlove (1984)
und Edmund Wilson (1984) es so beredt tun. Es mag ja ein
wenig unfair sein, dass ich mir Beispiele besonders
gelungener Fantasy herausgreife und an diesen (vielleicht
ja äußerst raren) Ausnahmen die Fantasykritik zurückweise,
während Kritiker wie Manlove, Wilson und andere sich am HdR
abarbeiten und mit ihrer Kritik kläglich scheitern. Aber es
geht ja um Pauschalkritik und die kann man nur an
Beispielen widerlegen. Und auch (Teilzeit-)Apologeten der
Fantasy wie Petzold üben Pauschalkritik, wenn sie – zwar
wohlwollend, aber bestimmt – von der „vorherrschenden
Flachheit der Charaktere“ reden. Stattdessen kann man bei
einigen Autorinnen und Autoren der Fantasy mit Recht
anzweifeln, dass dieser Vorwurf auf sie zutrifft. Bücher
wie Anne McCaffreys Drachensinger und Masterharper of Pern,
McKillips Vergessenen Tiere von Eld, Joy Chants Roter Mond
und Schwarzer Berg und der Erdsee-Zyklus von Ursula K.
LeGuin sind sogar in erster Linie Charakterstudien und
Entwicklungsgeschichten, die angesichts ihres Themas,
Menschen in außergewöhnlichen Entwicklungsprozessen zu
beobachten, nicht nur nicht eskapistisch sind, denen zudem
aber auch auf Grund der meisterlichen Zeichnung des Werdens
von Persönlichkeiten Flachheit und Begrenztheit wirklich
nicht vorgeworfen werden kann (vgl. Lenz 2001).
Nun zu dem Vorwurf, Fantasy sei nur etwas für Kinder.
Selbst Kritiker, die die Fantasy ernst nehmen, neigen dazu,
sie im Bereich der Kinderliteratur unterzubringen, oder wie
ist es sonst zu erklären, dass ein wichtiges Buch wie die
Aufsatzsammlung Alternative Worlds in Fantasy Fiction in
der Reihe Studies in Children Literature erscheint (Hunt/
Lenz 2001)?5 Das ist jedoch ein
geringes 'Vergehen' im Vergleich zu dem normalerweise
üblichen Tenor der Kritik, die sich die Fantasy unter
dem Etikett der Zuschreibung eines Kinderbuches
vornimmt.
Oder nicht? Wenn Fantasy als kindisch oder „juvenile trash“
abgeurteilt wird, meint die Kritik damit vielleicht,
Fantasy sei Kinderliteratur? Oh – das wäre doch prima und
ein Ausdruck höchsten Lobes, denn für welche Zielgruppe
muss man anspruchsvollere Literatur verfassen als für
Kinder? Für keine, denn für niemanden es ist wichtiger,
gute Geschichten erzählt zu bekommen als für Kinder –
Erwachsene, die können zur Not auch Trash vertragen. Und es
gibt ja auch wahnsinnig gute Kinderbücher. Astrid Lindgren
zum Beispiel – wenn es einen Menschen gibt, der den
Literaturnobelpreis eher verdient gehabt hätte als Tolkien
(is´ nur Spaß), dann wäre es die geniale schwedische
Kinderbuchautorin gewesen, die uns Pippi Langstrumpf,
Karlsson auf dem Dach, Ronja Räubertochter und so vieles
mehr geschenkt hat (kein Spaß mehr!). Aber dieses Lob
wollen Kritiker wie Edmund Wilson (Wilson 1984) Tolkien und
den anderen Autorinnen und Autoren natürlich nicht
aussprechen. Wenn es heißt, Fantasy sei kindisch, so ist
damit gemeint, sie sei belang- und anspruchslos; sie wird
allenfalls "mit mildem Lächeln geduldet [...] im Gunde aber
von allen [Literaturkritikern] verachtet" (Ende 1994, 55).
In diesem Sinne wäre sie sicherlich auch überhaupt nichts
für Kinder. (Dass sie aber nicht belanglos ist, ist in den
vorausgeangenen Absätzen wohl deutlich geworden, oder - wie
C.S. Lewis so passend bemerkt: "A book worth reading only
in childhood is not worth reading even then"; Lewis 1975c,
38.)
Ernsthaft aber muss gesagt werden, dass gute Fantasy
durchaus etwas für Kinder ist, solange sie kindgerechte
Themen und Inhalte aufweist. Natürlich ist Harry Potter
(zumindest bis einschließlich Band 4 – danach wird er
erstens zu grausam und zweitens schlicht zu schlecht als
dass man ihn Kindern zumuten möchte, auch wenn die nun
natürlich total angefixt sind) etwas für Kinder. Sicherlich
sind Tintenherz, der Hobbit, Die unendliche Geschichte
etwas für Kinder. Aber gute, 'harte' Fantasy wie Der Herr
der Ringe oder Tad Williams´ Otherland-Zyklus sind einfach
zu gruselig, grausam und brutal. Das hat in diesen Büchern
alles seine Berechtigung – sie spiegeln die reale Welt und
die ist viel zu oft auch gruselig, grausam und brutal. Aber
die Schlacht um Helms Klamm ist sicherlich etwas für
höchstens ältere Kinder und die Leidensszenen, durch die
Williams seine Helden schickt, übertreffen alles, was
Tolkien an Härte zu bieten hat bei Weitem (obwohl auch
diese Bücher und Szenen ab einem bestimmten Alter
funktionieren und wichtig werden können; vgl. Lewis 1975b,
31f.).
Consolatio Phantasiae
Die Beschäftigung mit guter Literatur, da bin ich mir
wahrscheinlich auch mit der professionellen Literaturkritik
einig, ist hinsichtlich ihrer Lehr- und
Unterhaltungsfunktion und ihrer kulturellen Bedeutung als
Wissensträger ebenso wie als ästhetisches Erlebnis ein
lohnende Beschäftigung. Worin ich mir mit großen Teilen der
Literaturkritik nicht einig bin, dürfte die Einbeziehung
der Fantasyliteratur in den Kanon beschäftigungswürdiger
Schriften sein. Ich hoffe, dass ich zeigen konnte, dass
Expeditionen in das Genre doch lohnend sind.
Fantasy, das sind Geschichten,
in die man eintauchen muss, um ihren Zauber erleben zu
können, das sind Geschichten die man erleben muss, als sei
man vor Ort, wenn man ihre gesamte Wirkkraft erfahren will.
Und das hat nichts mit Eskapismus zu tun, denn auf jegliche
Literatur muss man sich einlassen und im Falle der Fantasy
ist es eben das Eintauchen, ist es die willentliche
Aussetzung des Unglaubens (Coleridge 1907, II,6)6, die den Zugang
erst ermöglicht. Insofern bedarf es natürlich einer
bestimmten Geisteshaltung, um Fantasy genießen und
durchdenken zu können. Aber es ist nicht die Haltung des
Ignoranten, des Feiglings, des abwesenden Träumers wie
die Kritik des Öfteren zu meinen scheint. Es ist die
Haltung einer Leserin, eines Lesers, die sich den Zugang
zur eigenen Phantasie und Vorstellungskraft bewahrt hat,
die es ermöglicht, sich auf die Phantasien der
Autorinnen und Autoren der Fantasy einzulassen. Als
solches ist das eine Haltung, die in sozialer,
politischer und psychologischer Hinsicht 'gesund' ist,
denn eine offene Vorstellungskraft hilft beim
Verständnis der Umwelt ebenso wie beim Großreinemachen
im eigenen Kopf.
Wer mir in meinen Gedanken anerkennend gefolgt ist, dem
möchte ich noch mein Buch Fantasy. Einführung als
Lektüretipp ans Herz legen. Gefiel Ihnen dieser Aufsatz,
wird Ihnen auch das Buch gefallen.
1 Obwohl Pesch sicherlich Recht hat,
wenn er Fantasy als Gattung ebenfalls (auch, aber bei
weitem nicht nur) historisch verortet und sie als
„Kind der 60er- und frühen 70er-Jahre“ bezeichnet. Nur
sagt dies ebenfalls nichts über das Wesen der Gattung
aus (Pesch 2001, 32).
2 Es gibt auch (und zwar in
zunehmender Form) so etwas wie High Tech-Fantasy,
etwa in Form des Shadowrun-Rollenspielsystems und
der aus ihm abgeleiteten Romane oder – in beiden
Fällen meisterlich als erzählerisches Mittel genutzt
– in Dennis McKiernans für das Genre außerordentlich
philosophischem Roman Caverns of Socrates und in Tad
Williams Otherland-Zyklus.
3 „A Fantasy is a book or story
[...] in which magic really works“ (Carter 1971,
6).
4 Die Analyse der
Mittelerdedichtung hinsichtlich der Vorwürfe des
Rassismus, Faschismus, Paternalismus /
Chauvinismus (und ihre Zurückweisung) habe ich
mehrfach an anderer Stelle unternommen (vgl.
Weinreich 1999, 2003, 2005a, 2005b, 2006). Die
Untersuchung dieser Art von Kritik ist zudem von
vielen anderen Autoren unternommen worden, von
denen hier aber nur der wichtigste, nämlich
Patrick Curry, erwähnt werden soll (vgl. Curry
1997 u. 1999).
5 Die Sammlung behandelt die
Themen Fantasy, allgemein, den Erdsee-Zyklus
von Le Guin, Terry Pratchetts Scheibenwelt und
Philip Pullmans „His Dark Materials“-Trilogie.
Allein Pullmans Bücher richten sich – und auch
das nicht ausschließlich – an Kinder, eher
noch Jugendliche.