Mensch und Mythos.
Überlegungen zur Bedeutung des Mythischen für Mensch und Gesellschaft.
© Frank Weinreich



Ein Mythos ist also wahr, weil er wirkt,
nicht weil er uns faktische Informationen liefert.
Karen Armstrong: Eine kurze Geschichte des Mythos



Einleitung

Was haben wir eigentlich heute noch von Mythen? Wir leben, zumindest im alltäglichen Leben, ein eher nüchternes und zu großen Teilen von rationalen Anforderungen bestimmtes Leben1, das mit Blick auf das tägliche Funktionierenmüssen wenig Raum für die anderweltlichen Elemente des Mythischen lässt. Und Transzendenz und die Überschreitung der Realität beziehungsweise des in der Realität möglichen sind das wesentliche Gemeinsame, das alle Mythen verbindet. Welchen Platz aber hat der Mythos in einer Welt, die keine Magie gelten lässt und im Alltag auch schlecht gelten lassen kann, denn nach allem, was wir so sagen können, funktioniert sie ja nun wirklich nicht.

DSC00041

Das war in einer vorrationalen Welt, die noch an Götter und die Wirkkraft transzendenter Kräfte glaubte, natürlich ganz anders und der Mythos hatte eine dem Logos gleichrangige Bedeutung für das Leben. Logos und Technik erlaubten es den römischen Ingenieuren und Handwerkern eine riesige Flotte von Frachtschiffen zu bauen, die einer Millionenstadt wie Rom zu dem dringend benötigten Getreide verhalf, das beispielsweise in Nordafrika angebaut wurde; der Mythos erklärte zufriedenstellend warum alle Ingenieurs- und Handwerkskunst nicht half, wenn die Götter beschlossen, die Flotte im Sturm zu versenken und Rom einer Hungersnot zu überantworten. Heutzutage hilft der Logos, Schiffe zu bauen, die unsinkbar sind, und wenn sie dann doch auf dem Meeresboden landen, so ist es nicht mehr der Mythos, der tröstet, sondern die rational durchkalkulierte Versicherungsleistung, die den entstandenen Schaden mit Geld behandelt. Die moderne Welt ist dem Mythos entwachsen wie es scheint. Der Mythos ist verstummt in einer von den Göttern verlassenen Welt: "silencieuse dans ce monde déserté par les dieux", wie Michel Butor schreibt (zit. n. Chen 2007, 71). Oder stimmt das doch nicht? In Norddeutschland befällt viele Menschen auch heute noch ein ungutes Gefühl, wenn man eine Kerze vor ihrem vollständigen Abbrennen auspustet, denn der Aberglaube besagt, dass dann ein Seemann sein Leben lassen muss – ein Ereignis, dass für den Betroffenen und seine Familie mit rational durchkalkulierten Versicherungsleistungen allein nicht zu reparieren ist. Vielleicht haben die Götter die Welt verlassen, aber der Mensch verspürt noch immer ihren Einfluss.

Darzulegen, dass die Annahme vom Tod des Mythos nicht stimmt, ist die zunächst wenig aufregende Absicht dieses Vortrages. Denn intuitiv wissen wahrscheinlich die meisten Menschen, dass das Mythische Bedeutung für uns haben muss, schon weil es die Mehrzahl aller Menschen anspricht und in ihnen etwas zum Schwingen bringt. Diese intuitive Gewissheit, (eine von der Rationalität allerdings eher skeptische gesehene Erfahrungsweise; man traut sich gar nicht, von 'Erkenntnis' zu sprechen), ist jedoch eine nicht sehr starke und vor allem eine individuelle Bedingung, die es schon deshalb wert ist, sie genauer zu untersuchen und hinsichtlich möglicher intersubjektiv gültiger Bedeutungen und ihrer Verallgemeinerbarkeit und damit bezüglich ihrer gesellschaftlichen Rolle zu betrachten.


Vom Mythos

Was ist aber unter einem Mythos zu verstehen?

Eine einheitliche Definition des Mythos ist nicht zu finden. Die meisten Denker, die sich mit dem Mythos beschäftigten, kamen auch zu der Einsicht, dass sie wohl nicht möglich ist. Aber er lässt sich zumindest einigermaßen zuverlässig charakterisieren. Zunächst einmal bedeutet die altgriechische Vokabel Mythos nicht mehr als Erzählung, auch wenn der Mythos schon für antike Denker wie Platon, Hesiod und Aristoteles, mehr war als eine beliebige Erzählung. Wichtig aber ist, festzuhalten, dass Mythos von erzählerischem Charakter ist. Ein Mythos ist und war immer schon eine Erzählung, die mittels symbolischer Begrifflichkeit die Welt in ihrer materiellen vor allem aber auch spirituellen Verfasstheit, „als ganze und in ihrer Ganzheit“ (Frenschkowski 2006, 241) zu erklären versuchte. In Prähistorie und Antike war der Mythos ein Mittel zur symbolisch vermittelten Welterklärung, der von fabelhaften und magischen Dingen in vergangenen Zeiten oder außerhalb der realen Welt berichtete.15 Er hatte den Anspruch, den metaphysischen Überbau der Realität zu erklären und die Menschen einerseits durch die Erzählung in das größere Ganze des materiellen wie des spirituellen Kosmos einzubetten und sie andererseits durch den metaphysischen Verweis mit ihrer beschränkten Lebenssituation (der Erfahrung von Leid, Begrenztheit, Wandel, Tod) zu versöhnen. In dieser Hinsicht war der Mythos immer auch Therapie. Wichtig ist dabei, dass das mythische Denken, also das Denken in Begrifflichkeiten, die dem Mythos und der Mythologie entspringen, „nicht einfach Erzählung ist, sondern mit dem ausgesprochenen Wort einen Wahrheitsanspruch verbindet; die Erzählung bezieht sich auf die Wirklichkeit und vermittelt einen Sinn“ (Knatz 1999, 893). Doch mit dem wachsenden wissenschaftlichen Wissen über Welt und Universum wurde der Mythos immer weiter aus der Rolle des Welterklärers verdrängt. Es begann ein vermeintlicher Kampf zwischen Mythos und Logos.


Mythos und Logos


Die gewaltigen technischen Neuerungen und die politischen wie gesellschaftlichen Verschiebungen, die ausgehend von der Renaissance, über die Neuzeit bis in die Moderne geschahen, führten, wie man seinerzeit allgemein annahm, zu einer verdrängenden Entwicklung vom Mythos zum Logos (vgl. Neschke 1983). Francis Bacon äußerte diese Gewissheit schon 1623 in einer Art „Unabhängigkeitserklärung der Wissenschaft“ (Armstrong 2005, 113). Seine Schrift De Dignitate et Augmentis Scientiarium (Über die Würde und den Fortgang der Wissenschaften), in der ein neues Goldenes Zeitalter beschworen wurde, das die Wissenschaft und deren Erkenntnisse errichten würden. Bewusst bediente sich Bacon damit eines uralten mythischen Topos, stand doch die Vorstellung eines Goldenen Zeitalters am Anfang der meisten Mythen der Menschheit. Diese Anspielung erscheint heute jedoch wie ein ironischer Wink des persistierenden Irrationalismus. Fortgeführt wurden Gewissheiten baconscher Art dann durch Forscher und Denker wie Isaac Newton, Pierre-Simon Laplace oder den Begründer des Positivismus Auguste Comte und die große Mehrheit der Naturforscher überhaupt. Aber es gab immer auch Denker und vor allem Künstler, die das Gefühl hatten, dass der Logos allein nicht die Gesamtheit des Seins und der Erfahrung zu erklären vermag. Dies drückt sich beispielsweise in den im Glauben wurzelnden Überzeugungen John Lockes über die richtige Verfasstheit eines Staates aus, im Unbehagen Blaise Pascals an der Himmelsmechanik Newtons oder in John Keats Vorwurf an denselben, dass er das Universum entzaubert und damit zu einem ärmeren Ort gemacht habe.2 Gebrochen wurde die Gewissheit von der Bedeutungslosigkeit des Mythos aber nicht vor der Erfahrung der Weltkriege, des Totalitarismus und des Atomzeitalters, die den Glauben an die lineare Fortentwicklung der Menschheit erstmals seit Jahrhunderten nachhaltig erschütterten.3

Der ehedem ungebrochene Fortschritts- und Rationalitätsglaube, insbesondere im Laufe der Industrialisierung, führte nicht nur zur vermeintlichen Verdrängung des Mythischen aus der Lebenswelt der Menschen in Europa und den USA4, er führte auch zu der mehr oder weniger deutlich geäußerten Überzeugung, dass Mythos und Logos sich antagonistisch gegenüber stünden weil beide für sich beanspruchten in dem Sinne 'wahr' zu sein, dass sie jeweils eine zutreffende Weltbeschreibung liefern könnten. Demzufolge müsse einer von beiden untergehen, also sich als falsch erweisen. Dass falsch nur der Mythos mit seinen unhaltbaren Spekulationen über eine dies- wie jenseitige Verfasstheit des Sein sein könne, war dabei selbstverständlich. Reste dieser Überzeugung schwingen heute in den meisten Überlegungen zum Mythos mit und lassen es sinnvoll erscheinen, die Eingangsfrage, was wir heute eigentlich von Mythen 'haben' können, zu stellen, auch wenn sich die Diskussion gewendet hat und man ernsthaft nicht mehr von einem Antagonismus von Mythos und Logos ausgeht, sondern von komplementären Rollen beider.

Am überzeugendsten ist dies 1971 wohl von Hans Blumenberg dargestellt worden, der ausdrücklich auf eine gleichberechtigte Bedeutung von Mythos und Logos, also der irrationalen Überlieferung und des rationalen Weltverständnisses hinweist (Blumenberg 1971). Unter Anerkennung der Tatsache der grundlegenden Verschiedenheit von Mythos und Logos lässt sich ihre Komplementarität heute mit Karen Armstrong folgendermaßen zusammenfassen:

Im Gegensatz zum Mythos muss der Logos den objektiven Tatsachen entsprechen. Er bezeichnet die geistige Tätigkeit, die wir einsetzen, um etwas in der Außenwelt zu bewirken: wenn wir unsere Gesellschaft organisieren oder Technik entwickeln. Im Gegensatz zum Mythos ist er im Grunde pragmatisch. (Armstrong 2005, 33)

Da Mythos und Logos einander nicht überlappende Grenzen aufweisen, ergänzen sich ihre jeweils eigenen Sphären von alters her:

Ein Mythos konnte einem Jäger nicht sagen, wie er seine Beute erlegen oder eine Jagd effizient organisieren sollte, aber er half ihm, mit seinen Gefühlen beim Töten der Tiere umzugehen. Der Logos war effizient, praktisch und rational, konnte aber weder Fragen zum Wert des menschlichen Lebens beantworten, noch menschlichen Schmerz und Leid mildern. Instinktiv begriff der Homo Sapiens daher von Anfang an, dass Mythos und Logos unterschiedliche Aufgaben erfüllen (33).

Dieses Begreifen der Komplementarität der beiden menschlichen Wissenssphären ist allerdings erst im Zuge der neuen Ungewissheiten nach den Weltkriegen wieder zum Wissensbestand in der Fachdiskussion geworden und in der allgemeinen Diskussion immer noch nicht wieder ganz angekommen.

DSC00029


Der Mythos in der Entwicklung

Die Komplementarität von Mythos und Logos besteht darin, dass Logos und Mythos verschiedene Rollen haben, die sich gegenseitig nicht übernehmen lassen. Der Logos berichtet vom Faktischen, der Mythos das Transzendente: Tod, Grenzerfahrungen, das Unbekannte und Unaussprechliche und das Göttliche, als seinen ganz zentralen Begriff. Aus dieser kleinen Sammlung entwickelt dann beispielsweise Karen Armstrong in Eine kurze Geschichte des Mythos die These, dass der transzendentale Inhalt des Mythos Erklärungsmuster der Realität aus dem Grund spiegelt, weil die Menschen sich als Mängelwesen (vgl. Weniger 2001, 81) erkannten und Zuflucht auf einer „anderen Ebene suchten, die neben unserer Welt existiert und sie in gewisser Weise trägt“ (Armstrong 2005, 10). Das zeigt sich dann beispielsweise darin, dass „wenn Männer und Frauen [in der Antike] vom Göttlichen sprachen, [sie] damit meist einen Aspekt des Irdischen“ meinten (11). Dieses göttliche Element stellt eine „mächtigere Realität“ dar und bietet Schutz, Anleitung und Erklärungsmuster vornehmlich dadurch, dass es Sinn zu stiften vermag. Und dem Sein Sinn zu verleihen ist etwas, dass der Logos per definitionem nicht kann! Logos, das ist Synonym für wissenschaftliches, für um Objektivität sich mühen müssendes Denken. Logos sagt, was ist. Logos kann nur beschreiben, was er zu erkennen meint. Einen tieferen Sinn kann er dem Erkannten nicht zuweisen. Der Logos arbeitet deskriptiv, während der Mythos interpretiert. Insofern ergänzen sich Mythos und Logos für Armstrong wobei auch der Mythos imstande ist, in gewissem Sinne 'Wahrheiten' zu formulieren: „Ein Mythos ist also wahr, weil er wirkt, nicht weil er uns faktische Informationen liefert“ (15). Er „dien[t] nicht informativen, sondern therapeutischen Zwecken“ (67).

Zum Problem kann dabei nur werden, dass Interpretationen immer subjektiv bleiben müssen. Wer nicht anerkennen will, was der gerade herrschende Mythos aussagt, der kann mit legitimen Mitteln nicht dazu gezwungen werden. Doch muss dies nicht unbedingt ein Mangel sein. Solange man diesen speziellen Umstand im Bewusstsein behält, kann man ihn im Gegenteil zur persönlichen wie gesellschaftlichen Bereicherung nutzen, da die Subjektitvität des Mythos letztlich eine nahezu unendliche Verbreiterung der Sichtweisen erlaubt.

Im nachhinein, also beispielsweise in der Rückschau auf die Menschheitsgeschichte, kann der Mythos aber doch wieder wissenschaftlich verwendet werden, dient er doch hervorragend dazu, die Entwicklung des Denkens zu erklären. Denn die Rückschau und die Begutachtung der mythischen Überlieferungen zeigen, wie sehr Mythos und Realität eigentlich verwoben sind und wie alt sie sind. Die Anfänge mythischen Denkens in der Altsteinzeit und sogar früher5 sind belegt. Und von Anfang an weisen Sie darauf hin, dass der Mythos einen Nutzwert aufwies, den er nur erhalten konnte, wenn er die Verbindung zur Realität aufrecht erhielt, indem er die Realität zu erklären versuchte und in ihr Sinn zu stiften versprach. Der Ursprung mythischen Denkens und mythischer Überlieferung ist dabei mit hoher Wahrscheinlichkeit die Todeserfahrung und der mit ihr verbundene Ursprung von Religiosität. „Der Tod als existenzielle Grenzerfahrung konfrontiert den Menschen am deutlichsten mit der Sinnfrage“, sagt der Archäologe Gerd-Christian Weniger in seinem exzellenten Buch Projekt Menschwerdung (Weniger 2001, 58). Die Todeserfahrung in den Jäger- und Sammlergesellschaften der Altsteinzeit bezog sich dabei sowohl auf das Töten, das notwendiger Bestandteil des Lebens war, wie auch auf das Sterben von Gruppenmitgliedern und die Gewissheit, eines Tages auch selbst sterben zu müssen. Beides rührte in den frühen Menschen offenbar eine spirituelle Saite an, wie die steinzeitlichen Höhlenmalereien für die Jagd und das Töten und die frühesten Formen der Totenbehandlung, die sogar beim Homo neandertalensis6 zu finden waren, beweisen. Im Rahmen dieser Grenzerfahrungen ist der Ursprung des Mythos zu suchen.

Die erwähnten einander ergänzenden Funktionen von Logos und Mythos zeigten sich ebenfalls schon in prähistorischer Zeit. Der Logos ist pragmatisch und hat die Funktion, Fakten zu bewerten und nutzbar zu machen, während der Mythos hilft, diese vom Logos erkannten Existenzbedingungen für die mit Freude, Verlust, Liebe und Tod konfrontierte menschliche Psyche aufzubereiten. Wie schon erwähnt sagte der Logos, wie man etwas anzustellen hat – die Jagd beispielsweise – während der Mythos bei der Bewertung half – etwa der, der Gewalterfahrung (33). Hilfreich war zudem das dialogische Element des Mythischen, denn Mythen werden erzählt und erzählend zurückgegeben. Es entsteht ein Generationen überspannendes 'Wissen', das metaphysische Deutungsmuster akkumuliert und konzentriert. Mythos ist immer auch ein soziales Phänomen. Man bemüht seine Deutungskraft immer im Miteinander, immer dadurch, dass man ihn sich erzählt und ihn mit anderen (mythischen) Erklärungsmustern vergleicht. Als solches ist der Mythos ein „Diskurs, den wir in Extremsituationen brauchen“ (36).

Extremsituationen umfassender Art, die jeweils Umbrüche in der Geschichte der Menschheit oder wenigstens großer Teile der Menschheit darstellten, kennzeichnen die Entwicklung des mythischen Denkens. Als weitere entscheidende Schritte in der Entwicklung von Inhalten und Struktur des Mythos, neben der Erfahrung von Töten und Sterblichkeit, wählt beispielsweise Armstrong erstens die Erfindung des Ackerbaus und das Sesshaftwerden in der Jungsteinzeit, zweitens die 'Erfindung der Kultur' in den frühen Hochkulturen Mesopotamiens und Ägyptens, drittens die „Achsenzeit“ der Genese des Rationalismus und 'rationalisierender' Religiosität in den monotheistischen Glaubenssystemen wie auch in Konfuzianismus und Taoismus, viertens die Rückbesinnnung auf den Mythos in Form der (Re-)Mystifizierung von Religion im Mittelalter und schließlich fünftens den – gescheiterten – Versuch der Überwindung des Mythos durch den Logos in Neuzeit und Moderne.

Begründung dieses Vorgehens ist die Erkenntnis: „Immer wenn Menschen in eine neue historische Epoche eintreten, verändern sich ihre Vorstellungen von der Menschheit wie auch vom Göttlichen“ (Armstrong 2005, 61). Das mythische Denken reagiert auf die menschlichen Erfahrungen. In dieser Reaktion bildet sich die intellektuelle wie die spirituelle Entwicklung der Menschheit ab – beispielsweise im Erwachen der Strukturen stiftenden Kultur in Mesopotamien, die in der Überwindung des Chaos in Form von Gottheiten und Monstrositäten wie Tiamat, Leviathan und Mot reflektiert wird (Kap. IV) oder in dem Versuch Francis Bacons in De Dignitate et Augmentis Scientiarium die Wissenschaft, also den Logos, endgültig vom irrationalen Mythos zu befreien (Kap. VII). Die Spiegelung der Entwicklung der Menschheit in der Entwicklung des Mythos kann beispielsweise anhand der wesentlichen Charakteristika der folgenden Epochen aufgezeigt werden.

1. Die Jungsteinzeit. Allgemein wird die neolithische Revolution des Übergangs vom Leben als Jäger und Sammler zum Ackerbauern und Viehzüchter als eine der größten Umwälzungen in der Menschheitsgeschichte angesehen (vgl. Weniger 2001, Kap. Umwelt und Ernährung). Im Unterschied zu späteren Brüchen in der Entwicklung, die meist von Erfindungen in Technik und Technologie gekennzeichnet waren (wie an Begriffen der Art Bronze-, Eisenzeit, Industrialisierung oder Atomzeitalter ablesbar ist), ist die Konversion zum Bauern viel stärker von Faktoren abhängig, die außerhalb der Kontrolle des Menschen liegen als dies für homo faber der Fall ist: das Wetter, die Qualität des Saatgutes, die Fertilität des Viehs – das sind Faktoren, die anscheinend vom Schicksal oder den Göttern bestimmt werden und auf die der Mensch keinen Einfluss hat, es sei denn, es gelänge ihm, sich das Schicksal oder die Götter gewogen zu machen. So sind also „Ackerbau und Viehzucht zwar Produkt des Logos, galten aber im Gegensatz zu den technologischen Umwälzungen heutiger Zeit nicht als rein säkulare Tätigkeiten“ (Armstrong 2005, 42). Der Webstuhl, die Muskete – das sind technische Produkte, deren Erfolg gänzlich in der Hand der sie fabrizierenden Menschen liegt; Feldfrüchte, gesundes Vieh sind für eine vorwissenschaftliche Gesellschaft Epiphanien, es sind „Offenbarungen göttlicher Energie“ (43). Werkzeuge und Waffen stellte man einfach her7, für den Erfolg der bäuerlichen Bemühungen bedurfte es des Engagements in Riten, Anrufungen, Gebeten, Opfern. Der unbeeinflussbare Rhythmus der jahreszeitlichen Veränderungen rückte zudem den Zusammenhang von Werden und Vergehen und damit die Zusammengehörigkeit von Leben und Tod in besonderem Maße ins Bewusstsein. Wieder wird der Mensch auf Grenzerfahrungen in Form der letzten Grenze Tod gestoßen während nun auch das Leben und Werden als weitere Mysterien hinzutreten. Im Mythos schlägt sich das in der vielfachen Einheit von Todes- und Fruchtbarkeitsgöttern nieder oder im oftmals unerbittlichen Wesen der verschiedenen Muttergottheiten.
Der Mythos stellt sich hier noch ganz als Erklärungsmuster der Phänomene der Wirklichkeit dar während der Logos noch gänzlich vortheoretisch auftritt, noch völlig im Praktischen verankert ist.

2. Erste Hochkulturen in Mesopotamien und Ägypten. Das mythische Denken reagiert auf die menschlichen Erfahrungen. In dieser Reaktion bildet sich die intellektuelle wie die spirituelle Entwicklung der Menschheit ab – beispielsweise im Erwachen der Strukturen stiftenden Kultur in Mesopotamien, die in der Überwindung des Chaos in Form von Gottheiten und Monstrositäten wie Leviathan, Mot und Tiamat reflektiert wird (Kap. IV). So ist Tiamat die Urgöttin der babylonischen Mythologie. Sie ist die Mutter der meisten Ungeheuer aber auch der Stürme und anderer natürlicher Unbilden, die von Marduk getötet wird, der aus ihrem zweigeteilten Leib Himmel und Erde schuf (Schneidewind 2000, 416). Marduk erschafft also aus der chaotischen Tiamat die Ordnung von Himmel und Erde. Letztlich bildet der Schöpfungsmythos Enuma Elish die Erfahrungen der sesshaft werdenden Menschheit ab, die die Umwelt entsprechend ihrer Bedürfnisse zu formen beginnt. Dass Marduk dies im Kampf zu erledigen hat, ist ein Hinweis darauf, dass die Transformation zu Städte bewohnenden Bauern und Handwerkern mit beginnender Arbeitsteiligkeit so problembeladen und schmerzhaft gewesen sein muss, dass es sich in das kollektive Gedächtnis eingegraben hat, das den Mythos entstehen ließ. Ähnliche Reflektionen der geschichtlichen Entwicklungen zeigen sich in den Mythen Ägyptens.
Immer noch dient der Mythos als vorherrschendes Erklärungsmuster zum Begreifen der Welt, allerdings rückt auch der Logos in den Bereich der Theorie ein, wie das Entstehen von Mathematik, Medizin und Astronomie zeigt (vgl. Pichot 2000, Kap. 1 und 2).

DSC00049

3. Die Achsenzeit. Der Begriff der Achsenzeit ist in Anlehnung an Karl Jaspers gewählt, der darunter die Zeit von etwa 800 bis 200 v. Chr. verstand, in der die für die Entwicklung der Menschheit entscheidenden Phänomene der Geburt des rationalen Denkens im klassischen Griechenland und der reflektierenden Religionen des Monotheismus und des Konfuzianismus und Taoismus auftauchten (Jaspers 1963). Die Haltung der neuen Strömungen zum Mythos kann nicht einheitlich beschrieben werden. Gemeinsam ist jedoch Denkern wie Konfuzius, Laotse, Buddha, Plato, Aristoteles und den hebräischen Propheten, dass sie den Mythos aus der alltäglichen Lebensmitte entfernten, indem sie ihn abstrakter darstellten. So wurden aus praktischen Mythen wie denen der Babylonier, denen jede Stadt als Sitz eines Gottes und damit als besonders geschützt galt (vgl. Jacobsen 1954), theoretisierende Mythen wie der von Prometheus, der den Göttern das Feuer stahl und zu den Menschen brachte – eine erste Ahnung von Technologiekritik. Außerdem gaben die Mythendichter der Achsenzeit ihren Erzählungen eine deutliche ethische Ausrichtung. Die alten Göttermythen berichteten noch von chaotisch anmutenden Vorkommnissen, man denke nur an die Schlächtereien im ägyptischen Pantheon oder das äußerst fragwürdige Verhalten von Göttinnen und Göttern wie Ischtar und Zeus. Das waren Geschichten, die ohne eindeutige Stellungnahme dazu, wer moralisch falsch und wer richtig handelte auskamen. Demgegenüber benutzt Platon beispielsweise mythische Motive wie die Atlantissage, den Prometheusstoff oder die Figur des Gyges als Gleichnisse für die Ethik. Buddha formuliert die Karmalehre in eindeutiger Präzision und gibt ihr eine ethische Richtung. Konfuzius nimmt das Motiv der mythisch verklärenden Ahnenlehre im alten China auf und erstellt einen Verhaltenskodex, der sich auf den Ahnenmythos nur noch zum Zwecke seiner Legitimation beruft. Und auch die heute nicht mehr namhaft zu machenden hebräischen Propheten und Autoren, auf die das Alte Testament zurückzuführen ist, formulierten eine eindeutige, wenn auch rücksichtslose und intolerante Ethik und illustrierten sie durch mythische Geschichten über den Zorn Jahwes und die massenmörderischen Strafen, die dieser austeilt. In den Gedanken Platons und Aristoteles´ findet sich zudem der erste Hinweis darauf, dass Logos und Mythos sich nicht mehr ergänzen, sondern einander irgendwann als ausschließliche Erklärungsmuster gegenüberstehen würden.8
Der Logos als Welterklärer ist jetzt aus zeitgenössischer Sicht zwar noch nicht an die Stelle des Mythos getreten, mythisches Denken überwiegt noch klar. Aus heutiger Sicht ist die Achsenzeit aber diejenige Epoche, in der der Mythos seinen objektiven Stellenwert verlor, da er 'offensichtliche Unwahrheiten' wie Götter und Magie postulierte, während der Logos langsam seinen wissenschaftlichen Stellenwert annahm.

4. Die Remystifizierung in Spätantike und Mittelalter. Die von Armstrong beschriebenen Veränderungen, die der Mythos in Spätantike und Mittelalter erfuhr beschränken sich auf Europa und den vorderen Orient, denn sie gelten nur für die drei großen Offenbarungsreligionen, die allerdings so wirkmächtig waren, dass sie in den Gebieten, in denen an sie geglaubt wurde, die fast ausschließliche Erscheinungsform des Mythos waren. Das Neue an den Offenbarungsreligionen war, dass sie im Gegensatz zu den alten polytheistischen Entwürfen ein einheitliches Bild von Dies- und Jenseits hatten und das gesamte Sein, materiell wie spirituell zu erklären und den Menschen einen Platz darin zuzuweisen vermochten. Zugleich sind es hoffnungsvolle Religionen, die, anders als beispielsweise in den kosmischen Untergangsphantasien der nordischen Mythen, ein sinnvolles Universum und die Erlösung des Menschen postulieren. Doch wie sollte das erklärt werden? Mit den Mitteln des Logos geht dies nicht.9 Zwar kommen nachmittelalterlich die Protestanten mit erstaunlich wenig Mysterien aus, doch mit Geburt des Christentums und des Islam sowie im ganzen Mittelalter bedarf es unbedingt mythischer Geschichten, um die neue frohe Botschaft verständlich und vor allem glaubhaft zu machen. So stiftet der Exodusmythos des Judentums Identität mit emotionalen Mitteln und die Popularität der Kabbala überstrahlt als Antwort auf die Vertreibung der Juden aus Spanien im 16. Jahrhundert die nüchterne Erzählung der Genesis bei weitem. So lässt die Erzählung von Tod und Auferstehung Christi, den durch die Taufe in die Gemeinschaft aufgenommenen Menschen an der Erlösung teilhaben, ein Motiv das am stärksten vielleicht durch das eindeutige Mysterium der Eucharistie symbolisiert wird. Auch der Islam kennt mit dem körperlichen Aufstieg Mohammeds in den Himmel und mit dem schiitischen Mythos des okkulten Imamats identitätsstiftende Mythen und Mysterien. Und wenn es außerhalb der Offenbarungsreligionen oder in Abspaltung von ihren Hauptströmungen einmal einflussreiche Geistesbewegungen gab, wie etwa die der Gnosis, so lebten auch diese vom mythischen Denken. Wenn Platon und Aristoteles also beginnen, den Mythos auszutreiben, so zeigen sich Spätantike und Mittelalter in Reaktion darauf als wieder sehr mythenträchtig. Der Inhalt des Mythos aber hat sich wieder einmal verändert und den Anforderungen des Lebens angepasst. Der Mythos zieht sich aus dem Kleinen zurück, denn viele Einzelheiten der Realität müssen nun nicht mehr mystisch erklärt werden. Er beschränkt sich auf wenigere, aber dafür umso stärkere Motive wie die Erlösung und das ewige Leben. Und in ihnen ist er auch wirksamer, denn dieser Mythos übersteht die Anfeindung der Irrationalität in Renaissance, Neuzeit und Moderne sehr gut. Das anselmische Programm des Glaubens, der verstehen sucht, ist in Kant unwiderruflich gescheitert, aber der Glauben, der sich im Mythos erklärt, überlebte die Moderne mit Leichtigkeit und ist stark wie eh und je.
Der Mythos ist im Mittelalter gegenüber dem Logos wieder erstarkt.10 Der Mythos erklärt jedoch nicht mehr all die vielen kleinen und kleinsten Dinge des alltäglichen Lebens, die (in Hochkulturgebieten wie China, Indien, Vorderasien und Europa) immer mehr an Zauber verloren haben, seit der Zeit als noch jeder Busch und Stein als beseelt angesehen wurde. Aber er erklärt immer noch und auf deutlich höherem intellektuellem Niveau das große Ganze und kommt seiner ursprünglichen Funktion, Erklärung und Trost und Schutz zu bieten, vielleicht besser nach als je zuvor.

5. Die Moderne. Die Persistenz des Mythos widerspricht dem Programm der Moderne völlig, die in Form des Rationalismus und seiner diversen Strömungen eigentlich angetreten war, ihn endgültig ad absurdum zu führen. Ein Kennzeichen von Neuzeit und Moderne ist die Aufklärung, die „Mythen als nutzlos, falsch und überlebt abtat“ (Armstrong 2005, 109). Das wissenschaftliche Denken versuchte von nun an als einzig legitimer Welterklärer aufzutreten. Und das Credo des wissenschaftlichen Denkens lautet: Jegliche Erkenntnis ist ehrlich, transparent, rückhaltlos und falsifizierbar darzulegen, aber es sind auch nur diejenigen Erkenntnisse als objektivierbar zuzulassen, die empirisch nachweisbar sind. Besonders die empirische Erkenntnis ist nun allerdings im mythischen Denken nicht enthalten. Der in der Verachtung des Mythos liegende Denkfehler der Aufklärung liegt jedoch nicht in diesem Umstand, sondern in einem falschen Vulgärverständnis von Aufklärung selbst. Maßgeblich für das Verständnis von Aufklärung ist (und bleibt wohl auch) Kants Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (KWA XI, 53 – 61). Darin ist aber nichts zu finden von einer prinzipiellen Abwertung der Irrationalität (oder gar des mythischen Denkens). Der Aufklärung im Sinne von Kants Schrift geht es einzig und allein um die Rahmenbedingungen des öffentlichen, wissenschaftlichen und politischen Diskurses11 und aus denen ist keine Abwertung des Mythos als überlebten Denkens ableitbar. Zwar werden Mythen in der religiösen wie der politischen Praxis immer wieder in propagandistischer Hinsicht formuliert und erzählt – dies widerspricht dem Aufklärungsgedanken allerdings. Der Mythos als subjektives Moment der Welterklärung ist damit aber nicht gemeint und schon gar nicht abgeschafft. Doch wurde die Aufklärung nach Kant falsch als mit dem Mythos unvereinbar gelesen. Folgen hatte die Abwertung des Mythos im westlichen Denken dann natürlich: „Da die meisten westlichen Menschen keinen Gebrauch von Mythen machten, verloren viele jeglichen Sinn dafür“ (Armstrong 2005, 110). Wenn Nietzsche dann Ende des 19. Jahrhunderts sein „Gott ist todt“12 verkündet, so ist das nicht die Proklamation eines Atheisten, sondern beschreibt Gottes Tod als Folge des aufgeklärten Denkens, das dem Gottesmythos keinen Platz mehr lässt. Bezeichnenderweise lässt Nietzsche den „tollen Menschen“, also einen Verrückten, mit einer Laterne auf die vergebliche Suche nach Gott gehen. Die Laterne als Lichtspender ist ein Symbol für die Aufklärung. Nietzsche lässt nun aber jene Menschen den Verrückten auslachen, die schon nicht mehr an Gott glauben, Menschen, die glauben, aufgeklärt zu sein (Nietzsche KSA 3, 480). Die 'Aufgeklärten' erkennen also gar nicht, dass ihr Programm, eben das Licht der Aufklärung, es war, das Gott tötete. Sie verstehen aber auch nicht, was die Konsequenz von Gottes Tod ist. Der Verrückte sagt angesichts des Verschwindens des Gottesmythos: „Was thaten wir, als wir die Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? [...] Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts?Haucht uns nicht der leere Raum an?13 [...] Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht?“ (481, meine Hvhbg.). Nacht und Dunkel sind demnach also die paradoxen Folgen eines falsch verstandenen Lichtes der Aufklärung – und in Nacht und Dunkel fühlt der Mensch sich verloren, es fehlt ihm etwas. Die Topoi der Verlorenheit und des Verlustes sind denn auch ein literarisch in der Moderne immer wieder auftauchendes Thema – man denke etwa an T.S. Eliots Waste Land. Aber die Unzufriedenheit mit einer entzauberten Moderne finden wir, neben vielen anderen Autoren, auch bei Tolkien – seine Welt Mittelerde ist eine Art künstlicher Mythos, geschrieben nicht – zumindest nicht allein – mit der erklärenden oder therapeutischen Intention des klassischen Mythos, nichtsdestotrotz aber sich mythischer Mittel bedienend und die in der Moderne unvollständig gewordene reale Welt reflektierend. Dies wurde in der Folge immer klarer erkannt und Mythos und mythisches Denken erlangten wieder mehr Beachtung und wenn schon nicht eine welterklärende, so doch ihre therapeutische Rolle in Psychologie (Freud, Jung), Philosophie (Cassirer, Blumenberg) und Soziologie (Eliade) zurück.
Die Nachricht vom Tod des Mythos, dessen sich Neuzeit und Moderne auf den ersten Blick so gewiss schienen, war wohl doch etwas verfrüht. Das Pendel schlug in den vergangenen 500 Jahren zwar zuerst heftig zugunsten des Logos aus, doch hinterließ dies auf einer intuitiven und emotionalen Ebene eine Lücke, die Unzufriedenheit und Orientierungslosigkeit bewirkte. Eine Lücke, die erst das mythische Denken zu schließen imstande ist.

DSC00074


Der Mythos Jetzt und Hier

Was 'haben' wir also heute vom Mythos? Er kann heilen und zu heilen heißt, Dinge wieder zu ihrer Ganzheit zu führen; sie sind heile, wenn all ihre Teile wieder am rechten Platz sind. Der Mythos war als Welterklärungsmuster aber auch als Therapeutikum angetreten. Die Welt zu erklären, vermochte er aber vielleicht niemals wirklich. Denn was wurde wohl wirklich geglaubt in dem Sinne, dass Menschen überzeugt gewesen wären im Mythos Fakten vermittelt zu bekommen? Glaubten die Menschen wirklich Himmel und Erde seien aus dem Körper Tiamats entstanden? Glaubten Sie dass das Feuer ihnen von Prometheus geschenkt worden sei? Das muss ungewiss bleiben. Aber ich denke die Menschen begriffen immer schon, dass die Ordnung dem Chaos abgerungen werden muss und das eben deshalb das Leben immer auch Kampf ist. Und sie verstanden intuitiv, dass der Gebrauch von Feuer und Technik die Menschheit der umgebenden Natur unwiderruflich entfremdete, dass es aber für den haarlosen Zweibeiner keine Alternative zu Technologien geben würde. Beides sind Beispiele für nicht unbedingt glücklich machende Erkenntnisse. Glück zu spenden vermag der Mythos auch nur in den seltensten Momenten; aber er vermag es sehr oft, Menschen mit den Faktizitäten des Seins zu versöhnen und zugleich Ausblick und Hoffnung darauf zu geben, dass da irgendwo noch etwas ist, das über diese Welt hinausgeht, Horatio ... Mythisches Denken bleibt ein Therapeutikum. Ein Therapeutikum das viele vielleicht nicht brauchen werden, das aber immer da ist und dessen man sich immer bedienen kann – manchmal auch jene, die davon überzeugt sind, seiner niemals zu bedürfen. So falsch, wie Novalis meinte, ist das moderne Wesen gar nicht und wir würden wohl kaum überleben, wenn es plötzlich fortflöge, doch es tut der Moderne gut, wieder auf das „geheime Wort“ zu hören.

Und welche Bedeutung hat der Mythos für die Fantasy? Fantasy ist in den meisten Fällen (auch) eine Inszenierung mythischen Denkens,14 sei es actiongeladen auf der Brücke von Khazad-dûm oder kontemplativ in der Atrabeth Finrod ah Andreth. Der Mythos vermag dabei innerhalb der Werke wie auch außerhalb in der Primärwelt zu funktionieren („applicability“ in Tolkiens Sinn). So verstanden wehrt sich Fantasy auch gegen die ernüchterte Moderne und einen übermächtigen Logos. So verstanden berührt Fantasy die „mächtigere Realität“ jenseits der Grenzen der Erfahrung und bietet sich auch an, Sinn zu verleihen. Und die Lektüre von Eine kurze Geschichte des Mythos hilft, das zu begreifen: „Wenn professionelle Religionsführer uns nicht in mythischer Weisheit zu unterweisen vermögen, können unsere Künstler und Romanschriftsteller vielleicht diese priesterliche Aufgabe übernehmen und unserer verlorenen, beschädigten Welt neue Einsichten bringen“ (134).



1 Hier ist nicht der Ort, auf die Zweifel an der Faktizität der Realität einzugehen, die bspw. in der Philosophie prinzipiell erhoben werden oder die sich in postmodernen Theoriegebäuden und der Anwendung konstruktivistischer und dekonstuktivistischer Thesen ausdrückt. Die genannten Zweifel an einer einheitlichen und objektiv erkennbaren Realität haben nämlich insofern nichts mit dem Mythischen zu tun als sie bei allem Zweifel den Schritt in die Transzendenz nicht gehen, der für das Mythische konstitutiv ist.

2 Zu Newton vgl. die Principia Mathematica, zu Laplace vgl. die Théorie analytique, zu Locke vgl. Zwei Abhandlungen über die Regierung; zu Pascal vgl. Gedanken, zu Keats vgl. Lamia, ein Gedicht, das den Widerstreit von Mythos und Logos und den vermeintlichen Triumph des Logos sehr schön illustriert, wie in den folgenden Zeilen zu sehen ist:
„...
There was an awful rainbow once in heaven:
We know her woof, her texture; she is given
In the dull catalogue of common things.
Philosophy will clip an Angel’s wings,
Conquer all mysteries by rule and line,
Empty the haunted air, and gnomed mine—
Unweave a rainbow, as it erewhile made
The tender-person’d Lamia melt into a shade.“
...“
(John Keats:
Lamia, Zeilen 231 – 238)


Der Topos von
Lamia wurde in der Romantik mehrfach aufgegriffen, im deutschen Sprachraum besonders beeindruckend ist Novalis´ - im Gegensatz zu Keats hoffnungsvolle – philosophische Poetik zu diesem Thema:

„Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren
Sind Schlüssel aller Kreaturen
Wenn die so singen, oder küssen,
Mehr als die Tiefgelehrten wissen,
Wenn sich die Welt ins freie Leben,
Und in die Welt wird zurückbegeben,
Wenn dann sich wieder Licht und Schatten
Zu echter Klarheit werden gatten,
Und man in Märchen und Gedichten
Erkennt die wahren Weltgeschichten,
Dann fliegt vor Einem geheimen Wort
Das ganze verkehrte Wesen fort.“
(Novalis:
Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren)

3 Ein Glauben übrigens, der in der westlichen Welt allein von einer schon immer im Mythos verwurzelten Institution nicht geteilt wurde: der katholischen Kirche.

4 Auch in Australien, Neuseeland. In Afrika, Asien, Mittel- und Lateinamerika ist die Bedeutung des Mythos nie in dem Maße angezweifelt wie im sich entwickelnden westlichen Kulturkreis.

5 „Die erforderlichen selbstreflektorischen Fähigkeiten sind an die kognitive Leistungsfähigkeit des gehirns gekoppelt und können für den entwickelten Homo erectus aufgrund der erkennbaren biologischen und kulturellen Standards erwartet werden“ (Weniger 2001, 57)

6 Vgl. Weniger 2001, 62.

7 Dass es auch dabei mystische und mythische Elemente gab, die besonders in der Fantasy dann gerne aufgenommen werden (Elrics Schwert bei Moorcock, die Ringe bei Tolkien, Tomas´ Drachenrüstung bei Feist usw.) ist bekannt, aber in diesem Zusammenhang von untergeordneter Bedeutung.

8 Platons Politeia und des Aristoteles Metaphysik sind die eindeutigsten Belege für eine angestrebte Unterordnung des Mythos unter den Logos (vgl. die Rechtfertigung der Vertreibung der Dichter aus dem Staat, Politeia 603a – 607a und Metaphysik 1000a9 – 1000a19, besonders den Schluss 1000a18 – 19: „Doch es gehört sich wohl nicht, mythische Weisheit in ernstliche Betrachtung zu ziehen“). Während Platon den Mythos nur noch als Mittel der Illustration benutzt, liest Aristoteles Mythen als Beschreibungen des Faktischen und musste sie natürlich verwerfen (vgl. Armstrong, 2005, 92f.).

9 Wer dies wie Anselm von Canterbury versuchte, scheiterte später (wie Kant nachwies), sprach aber von Anfang an eine Sprache, die nur für die allerwenigsten verständlich war und jegliche Popularisierung schon deshalb verhinderte..

10 Was natürlich auch mit dem Verlust antiker Gelehrsamkeit in der Folge des Zusammenbruchs Roms zu tun hat und damit starke außerhalb von Mythos und Logos selbst liegende, historische Gründe hat.

11 Kant war sicherlich kein Freund mythischen Denkens, sondern stellte die Vernunft als strikt rationale Verstandestätigkeit über alle anderen menschlichen Vermögen, wie man ausführlich etwa in der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, Abt. Vom Erkenntnisvermögen nachlesen kann (KWA XII, hier bes. 506 – 512). Aber die Aufklärungsschrift ist eine Polemik gegen die Unmündigkeit und nicht gegen das Irrationale.

12 Gottes Tod ist an verschiedenen Stellen von Nietzsches Schriften Thema. Die eindrücklichste findet sich in Die fröhliche Wissenschaft, Aphorismus 125 (Nietzsche KSA 3, 480ff.).

13 Ganz ähnlich schon zweihundertfünfzig Jahre früher Blaise Pascal: „ ... wenn ich bedenke wie das ganze Weltall stumm ist ...“ (Pascal 1987, 94).

14 Frenschkowski geht sogar davon aus, dass etwa Tolkiens Mittelerde, die sicherlich wirkungsvollste aller Fantasyerzählungen, bewusst und in „narrative[r] Gleichrangigkeit [...] mit den großen Mythen der Inder und Germanen, Griechen und Kelten, Indianer und sonstigen Völker behauptet und inszeniert“ wurde (Frenschkowski, 2006, 249).

15
Wie beispielsweise sehr am chinesischen Ausdruck für Mythos - "shenhua" - zu sehen ist, der sich aus "shen" für Gott/Götter und "hua" für Sprache/n zusammensetzt (Chen 2007, 70)..




Literatur

(Frank Weinreich, Bochum 07/´06)