Mensch und Mythos.
Überlegungen zur Bedeutung des Mythischen für Mensch und
Gesellschaft.
© Frank
Weinreich
Ein Mythos ist also wahr,
weil er wirkt,
nicht weil er uns faktische Informationen liefert.
Karen Armstrong: Eine kurze Geschichte des
Mythos
Einleitung
Was haben wir eigentlich heute noch von Mythen? Wir leben,
zumindest im alltäglichen Leben, ein eher nüchternes und zu
großen Teilen von rationalen Anforderungen bestimmtes
Leben1, das mit Blick auf
das tägliche Funktionierenmüssen wenig Raum für die
anderweltlichen Elemente des Mythischen lässt. Und
Transzendenz und die Überschreitung der Realität
beziehungsweise des in der Realität möglichen sind das
wesentliche Gemeinsame, das alle Mythen verbindet.
Welchen Platz aber hat der Mythos in einer Welt, die
keine Magie gelten lässt und im Alltag auch schlecht
gelten lassen kann, denn nach allem, was wir so sagen
können, funktioniert sie ja nun wirklich nicht.
Das war in einer vorrationalen
Welt, die noch an Götter und die Wirkkraft transzendenter
Kräfte glaubte, natürlich ganz anders und der Mythos hatte
eine dem Logos gleichrangige Bedeutung für das Leben. Logos
und Technik erlaubten es den römischen Ingenieuren und
Handwerkern eine riesige Flotte von Frachtschiffen zu
bauen, die einer Millionenstadt wie Rom zu dem dringend
benötigten Getreide verhalf, das beispielsweise in
Nordafrika angebaut wurde; der Mythos erklärte
zufriedenstellend warum alle Ingenieurs- und Handwerkskunst
nicht half, wenn die Götter beschlossen, die Flotte im
Sturm zu versenken und Rom einer Hungersnot zu
überantworten. Heutzutage hilft der Logos, Schiffe zu
bauen, die unsinkbar sind, und wenn sie dann doch auf dem
Meeresboden landen, so ist es nicht mehr der Mythos, der
tröstet, sondern die rational durchkalkulierte
Versicherungsleistung, die den entstandenen Schaden mit
Geld behandelt. Die moderne Welt ist dem Mythos entwachsen
wie es scheint. Der Mythos ist verstummt in einer von den
Göttern verlassenen Welt: "silencieuse dans ce monde
déserté par les dieux", wie Michel Butor schreibt (zit. n.
Chen 2007, 71). Oder stimmt das doch nicht? In
Norddeutschland befällt viele Menschen auch heute noch ein
ungutes Gefühl, wenn man eine Kerze vor ihrem vollständigen
Abbrennen auspustet, denn der Aberglaube besagt, dass dann
ein Seemann sein Leben lassen muss – ein Ereignis, dass für
den Betroffenen und seine Familie mit rational
durchkalkulierten Versicherungsleistungen allein nicht zu
reparieren ist. Vielleicht haben die Götter die Welt
verlassen, aber der Mensch verspürt noch immer ihren
Einfluss.
Darzulegen, dass die Annahme vom Tod des Mythos nicht
stimmt, ist die zunächst wenig aufregende Absicht dieses
Vortrages. Denn intuitiv wissen wahrscheinlich die meisten
Menschen, dass das Mythische Bedeutung für uns haben muss,
schon weil es die Mehrzahl aller Menschen anspricht und in
ihnen etwas zum Schwingen bringt. Diese intuitive
Gewissheit, (eine von der Rationalität allerdings eher
skeptische gesehene Erfahrungsweise; man traut sich gar
nicht, von 'Erkenntnis' zu sprechen), ist jedoch eine nicht
sehr starke und vor allem eine individuelle Bedingung, die
es schon deshalb wert ist, sie genauer zu untersuchen und
hinsichtlich möglicher intersubjektiv gültiger Bedeutungen
und ihrer Verallgemeinerbarkeit und damit bezüglich ihrer
gesellschaftlichen Rolle zu betrachten.
Vom Mythos
Was ist aber unter einem Mythos zu verstehen?
Eine einheitliche Definition des Mythos ist nicht zu
finden. Die meisten Denker, die sich mit dem Mythos
beschäftigten, kamen auch zu der Einsicht, dass sie wohl
nicht möglich ist. Aber er lässt sich zumindest
einigermaßen zuverlässig charakterisieren. Zunächst einmal
bedeutet die altgriechische Vokabel Mythos nicht mehr als
Erzählung, auch wenn der Mythos schon für antike Denker wie
Platon, Hesiod und Aristoteles, mehr war als eine beliebige
Erzählung. Wichtig aber ist, festzuhalten, dass Mythos von
erzählerischem Charakter ist. Ein Mythos ist und war immer
schon eine Erzählung, die mittels symbolischer
Begrifflichkeit die Welt in ihrer materiellen vor allem
aber auch spirituellen Verfasstheit, „als ganze und in
ihrer Ganzheit“ (Frenschkowski 2006, 241) zu erklären
versuchte. In Prähistorie und Antike war der Mythos ein
Mittel zur symbolisch vermittelten Welterklärung, der von
fabelhaften und magischen Dingen in vergangenen Zeiten oder
außerhalb der realen Welt berichtete.15 Er hatte den
Anspruch, den metaphysischen Überbau der Realität zu
erklären und die Menschen einerseits durch die Erzählung
in das größere Ganze des materiellen wie des
spirituellen Kosmos einzubetten und sie andererseits
durch den metaphysischen Verweis mit ihrer beschränkten
Lebenssituation (der Erfahrung von Leid, Begrenztheit,
Wandel, Tod) zu versöhnen. In dieser Hinsicht war der
Mythos immer auch Therapie. Wichtig ist dabei, dass das
mythische Denken, also das Denken in Begrifflichkeiten,
die dem Mythos und der Mythologie entspringen, „nicht
einfach Erzählung ist, sondern mit dem ausgesprochenen
Wort einen Wahrheitsanspruch verbindet; die Erzählung
bezieht sich auf die Wirklichkeit und vermittelt einen
Sinn“ (Knatz 1999, 893). Doch mit dem wachsenden
wissenschaftlichen Wissen über Welt und Universum wurde
der Mythos immer weiter aus der Rolle des Welterklärers
verdrängt. Es begann ein vermeintlicher Kampf zwischen
Mythos und Logos.
Mythos und Logos
Die gewaltigen technischen Neuerungen und die politischen
wie gesellschaftlichen Verschiebungen, die ausgehend von
der Renaissance, über die Neuzeit bis in die Moderne
geschahen, führten, wie man seinerzeit allgemein annahm, zu
einer verdrängenden Entwicklung vom Mythos zum Logos (vgl.
Neschke 1983). Francis Bacon äußerte diese Gewissheit schon
1623 in einer Art „Unabhängigkeitserklärung der
Wissenschaft“ (Armstrong 2005, 113). Seine Schrift De
Dignitate et Augmentis Scientiarium (Über die
Würde und den Fortgang der Wissenschaften), in der ein
neues Goldenes Zeitalter beschworen wurde, das die
Wissenschaft und deren Erkenntnisse errichten würden.
Bewusst bediente sich Bacon damit eines uralten mythischen
Topos, stand doch die Vorstellung eines Goldenen Zeitalters
am Anfang der meisten Mythen der Menschheit. Diese
Anspielung erscheint heute jedoch wie ein ironischer Wink
des persistierenden Irrationalismus. Fortgeführt wurden
Gewissheiten baconscher Art dann durch Forscher und Denker
wie Isaac Newton, Pierre-Simon Laplace oder den Begründer
des Positivismus Auguste Comte und die große Mehrheit der
Naturforscher überhaupt. Aber es gab immer auch Denker und
vor allem Künstler, die das Gefühl hatten, dass der Logos
allein nicht die Gesamtheit des Seins und der Erfahrung zu
erklären vermag. Dies drückt sich beispielsweise in den im
Glauben wurzelnden Überzeugungen John Lockes über die
richtige Verfasstheit eines Staates aus, im Unbehagen
Blaise Pascals an der Himmelsmechanik Newtons oder in John
Keats Vorwurf an denselben, dass er das Universum
entzaubert und damit zu einem ärmeren Ort gemacht
habe.2 Gebrochen wurde die
Gewissheit von der Bedeutungslosigkeit des Mythos aber
nicht vor der Erfahrung der Weltkriege, des
Totalitarismus und des Atomzeitalters, die den Glauben
an die lineare Fortentwicklung der Menschheit erstmals
seit Jahrhunderten nachhaltig erschütterten.3
Der ehedem ungebrochene Fortschritts- und
Rationalitätsglaube, insbesondere im Laufe der
Industrialisierung, führte nicht nur zur vermeintlichen
Verdrängung des Mythischen aus der Lebenswelt der Menschen
in Europa und den USA4, er führte auch zu
der mehr oder weniger deutlich geäußerten Überzeugung,
dass Mythos und Logos sich antagonistisch gegenüber
stünden weil beide für sich beanspruchten in dem Sinne
'wahr' zu sein, dass sie jeweils eine zutreffende
Weltbeschreibung liefern könnten. Demzufolge müsse einer
von beiden untergehen, also sich als falsch erweisen.
Dass falsch nur der Mythos mit seinen unhaltbaren
Spekulationen über eine dies- wie jenseitige
Verfasstheit des Sein sein könne, war dabei
selbstverständlich. Reste dieser Überzeugung schwingen
heute in den meisten Überlegungen zum Mythos mit und
lassen es sinnvoll erscheinen, die Eingangsfrage, was
wir heute eigentlich von Mythen 'haben' können, zu
stellen, auch wenn sich die Diskussion gewendet hat und
man ernsthaft nicht mehr von einem Antagonismus von
Mythos und Logos ausgeht, sondern von komplementären
Rollen beider.
Am überzeugendsten ist dies 1971 wohl von Hans Blumenberg
dargestellt worden, der ausdrücklich auf eine
gleichberechtigte Bedeutung von Mythos und Logos, also der
irrationalen Überlieferung und des rationalen
Weltverständnisses hinweist (Blumenberg 1971). Unter
Anerkennung der Tatsache der grundlegenden Verschiedenheit
von Mythos und Logos lässt sich ihre Komplementarität heute
mit Karen Armstrong folgendermaßen zusammenfassen:
Im Gegensatz zum Mythos muss der Logos den objektiven
Tatsachen entsprechen. Er bezeichnet die geistige
Tätigkeit, die wir einsetzen, um etwas in der Außenwelt zu
bewirken: wenn wir unsere Gesellschaft organisieren oder
Technik entwickeln. Im Gegensatz zum Mythos ist er im
Grunde pragmatisch. (Armstrong 2005, 33)
Da Mythos und Logos einander nicht überlappende Grenzen
aufweisen, ergänzen sich ihre jeweils eigenen Sphären von
alters her:
Ein Mythos konnte einem Jäger nicht sagen, wie er seine
Beute erlegen oder eine Jagd effizient organisieren sollte,
aber er half ihm, mit seinen Gefühlen beim Töten der Tiere
umzugehen. Der Logos war effizient, praktisch und rational,
konnte aber weder Fragen zum Wert des menschlichen Lebens
beantworten, noch menschlichen Schmerz und Leid mildern.
Instinktiv begriff der Homo Sapiens daher von Anfang an,
dass Mythos und Logos unterschiedliche Aufgaben erfüllen
(33).
Dieses Begreifen der Komplementarität der beiden
menschlichen Wissenssphären ist allerdings erst im Zuge der
neuen Ungewissheiten nach den Weltkriegen wieder zum
Wissensbestand in der Fachdiskussion geworden und in der
allgemeinen Diskussion immer noch nicht wieder ganz
angekommen.
Der Mythos in der
Entwicklung
Die Komplementarität von Mythos und Logos besteht darin,
dass Logos und Mythos verschiedene Rollen haben, die sich
gegenseitig nicht übernehmen lassen. Der Logos berichtet
vom Faktischen, der Mythos das Transzendente: Tod,
Grenzerfahrungen, das Unbekannte und Unaussprechliche und
das Göttliche, als seinen ganz zentralen Begriff. Aus
dieser kleinen Sammlung entwickelt dann beispielsweise
Karen Armstrong in Eine kurze Geschichte des
Mythos die These, dass der transzendentale Inhalt des
Mythos Erklärungsmuster der Realität aus dem Grund
spiegelt, weil die Menschen sich als Mängelwesen (vgl.
Weniger 2001, 81) erkannten und Zuflucht auf einer „anderen
Ebene suchten, die neben unserer Welt existiert und sie in
gewisser Weise trägt“ (Armstrong 2005, 10). Das zeigt sich
dann beispielsweise darin, dass „wenn Männer und Frauen [in
der Antike] vom Göttlichen sprachen, [sie] damit meist
einen Aspekt des Irdischen“ meinten (11). Dieses göttliche
Element stellt eine „mächtigere Realität“ dar und bietet
Schutz, Anleitung und Erklärungsmuster vornehmlich dadurch,
dass es Sinn zu stiften vermag. Und dem Sein Sinn zu
verleihen ist etwas, dass der Logos per definitionem nicht
kann! Logos, das ist Synonym für wissenschaftliches, für um
Objektivität sich mühen müssendes Denken. Logos sagt, was
ist. Logos kann nur beschreiben, was er zu erkennen meint.
Einen tieferen Sinn kann er dem Erkannten nicht zuweisen.
Der Logos arbeitet deskriptiv, während der Mythos
interpretiert. Insofern ergänzen sich Mythos und Logos für
Armstrong wobei auch der Mythos imstande ist, in gewissem
Sinne 'Wahrheiten' zu formulieren: „Ein Mythos ist also
wahr, weil er wirkt, nicht weil er uns faktische
Informationen liefert“ (15). Er „dien[t] nicht
informativen, sondern therapeutischen Zwecken“ (67).
Zum Problem kann dabei nur werden, dass Interpretationen
immer subjektiv bleiben müssen. Wer nicht anerkennen will,
was der gerade herrschende Mythos aussagt, der kann mit
legitimen Mitteln nicht dazu gezwungen werden. Doch muss
dies nicht unbedingt ein Mangel sein. Solange man diesen
speziellen Umstand im Bewusstsein behält, kann man ihn im
Gegenteil zur persönlichen wie gesellschaftlichen
Bereicherung nutzen, da die Subjektitvität des Mythos
letztlich eine nahezu unendliche Verbreiterung der
Sichtweisen erlaubt.
Im nachhinein, also beispielsweise in der Rückschau auf die
Menschheitsgeschichte, kann der Mythos aber doch wieder
wissenschaftlich verwendet werden, dient er doch
hervorragend dazu, die Entwicklung des Denkens zu erklären.
Denn die Rückschau und die Begutachtung der mythischen
Überlieferungen zeigen, wie sehr Mythos und Realität
eigentlich verwoben sind und wie alt sie sind. Die Anfänge
mythischen Denkens in der Altsteinzeit und sogar
früher5 sind belegt. Und
von Anfang an weisen Sie darauf hin, dass der Mythos
einen Nutzwert aufwies, den er nur erhalten konnte, wenn
er die Verbindung zur Realität aufrecht erhielt, indem
er die Realität zu erklären versuchte und in ihr Sinn zu
stiften versprach. Der Ursprung mythischen Denkens und
mythischer Überlieferung ist dabei mit hoher
Wahrscheinlichkeit die Todeserfahrung und der mit ihr
verbundene Ursprung von Religiosität. „Der Tod als
existenzielle Grenzerfahrung konfrontiert den Menschen
am deutlichsten mit der Sinnfrage“, sagt der Archäologe
Gerd-Christian Weniger in seinem exzellenten Buch
Projekt Menschwerdung (Weniger 2001, 58). Die
Todeserfahrung in den Jäger- und Sammlergesellschaften
der Altsteinzeit bezog sich dabei sowohl auf das Töten,
das notwendiger Bestandteil des Lebens war, wie auch auf
das Sterben von Gruppenmitgliedern und die Gewissheit,
eines Tages auch selbst sterben zu müssen. Beides rührte
in den frühen Menschen offenbar eine spirituelle Saite
an, wie die steinzeitlichen Höhlenmalereien für die Jagd
und das Töten und die frühesten Formen der
Totenbehandlung, die sogar beim Homo
neandertalensis6 zu finden waren,
beweisen. Im Rahmen dieser Grenzerfahrungen ist der
Ursprung des Mythos zu suchen.
Die erwähnten einander ergänzenden Funktionen von Logos und
Mythos zeigten sich ebenfalls schon in prähistorischer
Zeit. Der Logos ist pragmatisch und hat die Funktion,
Fakten zu bewerten und nutzbar zu machen, während der
Mythos hilft, diese vom Logos erkannten Existenzbedingungen
für die mit Freude, Verlust, Liebe und Tod konfrontierte
menschliche Psyche aufzubereiten. Wie schon erwähnt sagte
der Logos, wie man etwas anzustellen hat – die Jagd
beispielsweise – während der Mythos bei der Bewertung half
– etwa der, der Gewalterfahrung (33). Hilfreich war zudem
das dialogische Element des Mythischen, denn Mythen werden
erzählt und erzählend zurückgegeben. Es entsteht ein
Generationen überspannendes 'Wissen', das metaphysische
Deutungsmuster akkumuliert und konzentriert. Mythos ist
immer auch ein soziales Phänomen. Man bemüht seine
Deutungskraft immer im Miteinander, immer dadurch, dass man
ihn sich erzählt und ihn mit anderen (mythischen)
Erklärungsmustern vergleicht. Als solches ist der Mythos
ein „Diskurs, den wir in Extremsituationen brauchen“ (36).
Extremsituationen umfassender Art, die jeweils Umbrüche in
der Geschichte der Menschheit oder wenigstens großer Teile
der Menschheit darstellten, kennzeichnen die Entwicklung
des mythischen Denkens. Als weitere entscheidende Schritte
in der Entwicklung von Inhalten und Struktur des Mythos,
neben der Erfahrung von Töten und Sterblichkeit, wählt
beispielsweise Armstrong erstens die Erfindung des
Ackerbaus und das Sesshaftwerden in der Jungsteinzeit,
zweitens die 'Erfindung der Kultur' in den frühen
Hochkulturen Mesopotamiens und Ägyptens, drittens die
„Achsenzeit“ der Genese des Rationalismus und
'rationalisierender' Religiosität in den monotheistischen
Glaubenssystemen wie auch in Konfuzianismus und Taoismus,
viertens die Rückbesinnnung auf den Mythos in Form der
(Re-)Mystifizierung von Religion im Mittelalter und
schließlich fünftens den – gescheiterten – Versuch der
Überwindung des Mythos durch den Logos in Neuzeit und
Moderne.
Begründung dieses Vorgehens ist die Erkenntnis: „Immer wenn
Menschen in eine neue historische Epoche eintreten,
verändern sich ihre Vorstellungen von der Menschheit wie
auch vom Göttlichen“ (Armstrong 2005, 61). Das mythische
Denken reagiert auf die menschlichen Erfahrungen. In dieser
Reaktion bildet sich die intellektuelle wie die spirituelle
Entwicklung der Menschheit ab – beispielsweise im Erwachen
der Strukturen stiftenden Kultur in Mesopotamien, die in
der Überwindung des Chaos in Form von Gottheiten und
Monstrositäten wie Tiamat, Leviathan und Mot reflektiert
wird (Kap. IV) oder in dem Versuch Francis Bacons in De
Dignitate et Augmentis Scientiarium die Wissenschaft, also
den Logos, endgültig vom irrationalen Mythos zu befreien
(Kap. VII). Die Spiegelung der Entwicklung der Menschheit
in der Entwicklung des Mythos kann beispielsweise anhand
der wesentlichen Charakteristika der folgenden Epochen
aufgezeigt werden.
1. Die Jungsteinzeit. Allgemein wird die
neolithische Revolution des Übergangs vom Leben als Jäger
und Sammler zum Ackerbauern und Viehzüchter als eine der
größten Umwälzungen in der Menschheitsgeschichte angesehen
(vgl. Weniger 2001, Kap. Umwelt und Ernährung). Im
Unterschied zu späteren Brüchen in der Entwicklung, die
meist von Erfindungen in Technik und Technologie
gekennzeichnet waren (wie an Begriffen der Art Bronze-,
Eisenzeit, Industrialisierung oder Atomzeitalter ablesbar
ist), ist die Konversion zum Bauern viel stärker von
Faktoren abhängig, die außerhalb der Kontrolle des Menschen
liegen als dies für homo faber der Fall ist: das Wetter,
die Qualität des Saatgutes, die Fertilität des Viehs – das
sind Faktoren, die anscheinend vom Schicksal oder den
Göttern bestimmt werden und auf die der Mensch keinen
Einfluss hat, es sei denn, es gelänge ihm, sich das
Schicksal oder die Götter gewogen zu machen. So sind also
„Ackerbau und Viehzucht zwar Produkt des Logos, galten aber
im Gegensatz zu den technologischen Umwälzungen heutiger
Zeit nicht als rein säkulare Tätigkeiten“ (Armstrong 2005,
42). Der Webstuhl, die Muskete – das sind technische
Produkte, deren Erfolg gänzlich in der Hand der sie
fabrizierenden Menschen liegt; Feldfrüchte, gesundes Vieh
sind für eine vorwissenschaftliche Gesellschaft Epiphanien,
es sind „Offenbarungen göttlicher Energie“ (43). Werkzeuge
und Waffen stellte man einfach her7, für den Erfolg der
bäuerlichen Bemühungen bedurfte es des Engagements in
Riten, Anrufungen, Gebeten, Opfern. Der unbeeinflussbare
Rhythmus der jahreszeitlichen Veränderungen rückte zudem
den Zusammenhang von Werden und Vergehen und damit die
Zusammengehörigkeit von Leben und Tod in besonderem Maße
ins Bewusstsein. Wieder wird der Mensch auf
Grenzerfahrungen in Form der letzten Grenze Tod gestoßen
während nun auch das Leben und Werden als weitere
Mysterien hinzutreten. Im Mythos schlägt sich das in der
vielfachen Einheit von Todes- und Fruchtbarkeitsgöttern
nieder oder im oftmals unerbittlichen Wesen der
verschiedenen Muttergottheiten.
Der Mythos stellt sich hier noch ganz als Erklärungsmuster
der Phänomene der Wirklichkeit dar während der Logos noch
gänzlich vortheoretisch auftritt, noch völlig im
Praktischen verankert ist.
2. Erste Hochkulturen in Mesopotamien und
Ägypten. Das mythische Denken reagiert auf die menschlichen
Erfahrungen. In dieser Reaktion bildet sich die
intellektuelle wie die spirituelle Entwicklung der
Menschheit ab – beispielsweise im Erwachen der Strukturen
stiftenden Kultur in Mesopotamien, die in der Überwindung
des Chaos in Form von Gottheiten und Monstrositäten wie
Leviathan, Mot und Tiamat reflektiert wird (Kap. IV). So
ist Tiamat die Urgöttin der babylonischen Mythologie. Sie
ist die Mutter der meisten Ungeheuer aber auch der Stürme
und anderer natürlicher Unbilden, die von Marduk getötet
wird, der aus ihrem zweigeteilten Leib Himmel und Erde
schuf (Schneidewind 2000, 416). Marduk erschafft also aus
der chaotischen Tiamat die Ordnung von Himmel und Erde.
Letztlich bildet der Schöpfungsmythos Enuma Elish die
Erfahrungen der sesshaft werdenden Menschheit ab, die die
Umwelt entsprechend ihrer Bedürfnisse zu formen beginnt.
Dass Marduk dies im Kampf zu erledigen hat, ist ein Hinweis
darauf, dass die Transformation zu Städte bewohnenden
Bauern und Handwerkern mit beginnender Arbeitsteiligkeit so
problembeladen und schmerzhaft gewesen sein muss, dass es
sich in das kollektive Gedächtnis eingegraben hat, das den
Mythos entstehen ließ. Ähnliche Reflektionen der
geschichtlichen Entwicklungen zeigen sich in den Mythen
Ägyptens.
Immer noch dient der Mythos als vorherrschendes
Erklärungsmuster zum Begreifen der Welt, allerdings rückt
auch der Logos in den Bereich der Theorie ein, wie das
Entstehen von Mathematik, Medizin und Astronomie zeigt
(vgl. Pichot 2000, Kap. 1 und 2).
3. Die
Achsenzeit. Der Begriff der Achsenzeit ist in Anlehnung an
Karl Jaspers gewählt, der darunter die Zeit von etwa 800
bis 200 v. Chr. verstand, in der die für die Entwicklung
der Menschheit entscheidenden Phänomene der Geburt des
rationalen Denkens im klassischen Griechenland und der
reflektierenden Religionen des Monotheismus und des
Konfuzianismus und Taoismus auftauchten (Jaspers 1963). Die
Haltung der neuen Strömungen zum Mythos kann nicht
einheitlich beschrieben werden. Gemeinsam ist jedoch
Denkern wie Konfuzius, Laotse, Buddha, Plato, Aristoteles
und den hebräischen Propheten, dass sie den Mythos aus der
alltäglichen Lebensmitte entfernten, indem sie ihn
abstrakter darstellten. So wurden aus praktischen Mythen
wie denen der Babylonier, denen jede Stadt als Sitz eines
Gottes und damit als besonders geschützt galt (vgl.
Jacobsen 1954), theoretisierende Mythen wie der von
Prometheus, der den Göttern das Feuer stahl und zu den
Menschen brachte – eine erste Ahnung von Technologiekritik.
Außerdem gaben die Mythendichter der Achsenzeit ihren
Erzählungen eine deutliche ethische Ausrichtung. Die alten
Göttermythen berichteten noch von chaotisch anmutenden
Vorkommnissen, man denke nur an die Schlächtereien im
ägyptischen Pantheon oder das äußerst fragwürdige Verhalten
von Göttinnen und Göttern wie Ischtar und Zeus. Das waren
Geschichten, die ohne eindeutige Stellungnahme dazu, wer
moralisch falsch und wer richtig handelte auskamen.
Demgegenüber benutzt Platon beispielsweise mythische Motive
wie die Atlantissage, den Prometheusstoff oder die Figur
des Gyges als Gleichnisse für die Ethik. Buddha formuliert
die Karmalehre in eindeutiger Präzision und gibt ihr eine
ethische Richtung. Konfuzius nimmt das Motiv der mythisch
verklärenden Ahnenlehre im alten China auf und erstellt
einen Verhaltenskodex, der sich auf den Ahnenmythos nur
noch zum Zwecke seiner Legitimation beruft. Und auch die
heute nicht mehr namhaft zu machenden hebräischen Propheten
und Autoren, auf die das Alte Testament zurückzuführen ist,
formulierten eine eindeutige, wenn auch rücksichtslose und
intolerante Ethik und illustrierten sie durch mythische
Geschichten über den Zorn Jahwes und die massenmörderischen
Strafen, die dieser austeilt. In den Gedanken Platons und
Aristoteles´ findet sich zudem der erste Hinweis darauf,
dass Logos und Mythos sich nicht mehr ergänzen, sondern
einander irgendwann als ausschließliche Erklärungsmuster
gegenüberstehen würden.8
Der Logos als Welterklärer ist jetzt aus zeitgenössischer
Sicht zwar noch nicht an die Stelle des Mythos getreten,
mythisches Denken überwiegt noch klar. Aus heutiger Sicht
ist die Achsenzeit aber diejenige Epoche, in der der Mythos
seinen objektiven Stellenwert verlor, da er
'offensichtliche Unwahrheiten' wie Götter und Magie
postulierte, während der Logos langsam seinen
wissenschaftlichen Stellenwert annahm.
4. Die Remystifizierung in Spätantike und
Mittelalter. Die von Armstrong beschriebenen Veränderungen,
die der Mythos in Spätantike und Mittelalter erfuhr
beschränken sich auf Europa und den vorderen Orient, denn
sie gelten nur für die drei großen Offenbarungsreligionen,
die allerdings so wirkmächtig waren, dass sie in den
Gebieten, in denen an sie geglaubt wurde, die fast
ausschließliche Erscheinungsform des Mythos waren. Das Neue
an den Offenbarungsreligionen war, dass sie im Gegensatz zu
den alten polytheistischen Entwürfen ein einheitliches Bild
von Dies- und Jenseits hatten und das gesamte Sein,
materiell wie spirituell zu erklären und den Menschen einen
Platz darin zuzuweisen vermochten. Zugleich sind es
hoffnungsvolle Religionen, die, anders als beispielsweise
in den kosmischen Untergangsphantasien der nordischen
Mythen, ein sinnvolles Universum und die Erlösung des
Menschen postulieren. Doch wie sollte das erklärt werden?
Mit den Mitteln des Logos geht dies nicht.9 Zwar kommen
nachmittelalterlich die Protestanten mit erstaunlich
wenig Mysterien aus, doch mit Geburt des Christentums
und des Islam sowie im ganzen Mittelalter bedarf es
unbedingt mythischer Geschichten, um die neue frohe
Botschaft verständlich und vor allem glaubhaft zu
machen. So stiftet der Exodusmythos des Judentums
Identität mit emotionalen Mitteln und die Popularität
der Kabbala überstrahlt als Antwort auf die Vertreibung
der Juden aus Spanien im 16. Jahrhundert die nüchterne
Erzählung der Genesis bei weitem. So lässt die Erzählung
von Tod und Auferstehung Christi, den durch die Taufe in
die Gemeinschaft aufgenommenen Menschen an der Erlösung
teilhaben, ein Motiv das am stärksten vielleicht durch
das eindeutige Mysterium der Eucharistie symbolisiert
wird. Auch der Islam kennt mit dem körperlichen Aufstieg
Mohammeds in den Himmel und mit dem schiitischen Mythos
des okkulten Imamats identitätsstiftende Mythen und
Mysterien. Und wenn es außerhalb der
Offenbarungsreligionen oder in Abspaltung von ihren
Hauptströmungen einmal einflussreiche Geistesbewegungen
gab, wie etwa die der Gnosis, so lebten auch diese vom
mythischen Denken. Wenn Platon und Aristoteles also
beginnen, den Mythos auszutreiben, so zeigen sich
Spätantike und Mittelalter in Reaktion darauf als wieder
sehr mythenträchtig. Der Inhalt des Mythos aber hat sich
wieder einmal verändert und den Anforderungen des Lebens
angepasst. Der Mythos zieht sich aus dem Kleinen zurück,
denn viele Einzelheiten der Realität müssen nun nicht
mehr mystisch erklärt werden. Er beschränkt sich auf
wenigere, aber dafür umso stärkere Motive wie die
Erlösung und das ewige Leben. Und in ihnen ist er auch
wirksamer, denn dieser Mythos übersteht die Anfeindung
der Irrationalität in Renaissance, Neuzeit und Moderne
sehr gut. Das anselmische Programm des Glaubens, der
verstehen sucht, ist in Kant unwiderruflich gescheitert,
aber der Glauben, der sich im Mythos erklärt, überlebte
die Moderne mit Leichtigkeit und ist stark wie eh und
je.
Der Mythos ist im Mittelalter gegenüber dem Logos wieder
erstarkt.10 Der Mythos
erklärt jedoch nicht mehr all die vielen kleinen und
kleinsten Dinge des alltäglichen Lebens, die (in
Hochkulturgebieten wie China, Indien, Vorderasien und
Europa) immer mehr an Zauber verloren haben, seit der
Zeit als noch jeder Busch und Stein als beseelt
angesehen wurde. Aber er erklärt immer noch und auf
deutlich höherem intellektuellem Niveau das große Ganze
und kommt seiner ursprünglichen Funktion, Erklärung und
Trost und Schutz zu bieten, vielleicht besser nach als
je zuvor.
5. Die Moderne. Die Persistenz des Mythos
widerspricht dem Programm der Moderne völlig, die in Form
des Rationalismus und seiner diversen Strömungen eigentlich
angetreten war, ihn endgültig ad absurdum zu führen. Ein
Kennzeichen von Neuzeit und Moderne ist die Aufklärung, die
„Mythen als nutzlos, falsch und überlebt abtat“ (Armstrong
2005, 109). Das wissenschaftliche Denken versuchte von nun
an als einzig legitimer Welterklärer aufzutreten. Und das
Credo des wissenschaftlichen Denkens lautet: Jegliche
Erkenntnis ist ehrlich, transparent, rückhaltlos und
falsifizierbar darzulegen, aber es sind auch nur diejenigen
Erkenntnisse als objektivierbar zuzulassen, die empirisch
nachweisbar sind. Besonders die empirische Erkenntnis ist
nun allerdings im mythischen Denken nicht enthalten. Der in
der Verachtung des Mythos liegende Denkfehler der
Aufklärung liegt jedoch nicht in diesem Umstand, sondern in
einem falschen Vulgärverständnis von Aufklärung selbst.
Maßgeblich für das Verständnis von Aufklärung ist (und
bleibt wohl auch) Kants Beantwortung der Frage: Was ist
Aufklärung? (KWA XI, 53 – 61). Darin ist aber nichts zu
finden von einer prinzipiellen Abwertung der Irrationalität
(oder gar des mythischen Denkens). Der Aufklärung im Sinne
von Kants Schrift geht es einzig und allein um die
Rahmenbedingungen des öffentlichen, wissenschaftlichen und
politischen Diskurses11 und aus denen ist
keine Abwertung des Mythos als überlebten Denkens
ableitbar. Zwar werden Mythen in der religiösen wie der
politischen Praxis immer wieder in propagandistischer
Hinsicht formuliert und erzählt – dies widerspricht dem
Aufklärungsgedanken allerdings. Der Mythos als
subjektives Moment der Welterklärung ist damit aber
nicht gemeint und schon gar nicht abgeschafft. Doch
wurde die Aufklärung nach Kant falsch als mit dem Mythos
unvereinbar gelesen. Folgen hatte die Abwertung des
Mythos im westlichen Denken dann natürlich: „Da die
meisten westlichen Menschen keinen Gebrauch von Mythen
machten, verloren viele jeglichen Sinn dafür“ (Armstrong
2005, 110). Wenn Nietzsche dann Ende des 19.
Jahrhunderts sein „Gott ist todt“12 verkündet, so ist
das nicht die Proklamation eines Atheisten, sondern
beschreibt Gottes Tod als Folge des aufgeklärten
Denkens, das dem Gottesmythos keinen Platz mehr lässt.
Bezeichnenderweise lässt Nietzsche den „tollen
Menschen“, also einen Verrückten, mit einer Laterne auf
die vergebliche Suche nach Gott gehen. Die Laterne als
Lichtspender ist ein Symbol für die Aufklärung.
Nietzsche lässt nun aber jene Menschen den Verrückten
auslachen, die schon nicht mehr an Gott glauben,
Menschen, die glauben, aufgeklärt zu sein (Nietzsche KSA
3, 480). Die 'Aufgeklärten' erkennen also gar nicht,
dass ihr Programm, eben das Licht der Aufklärung, es
war, das Gott tötete. Sie verstehen aber auch nicht, was
die Konsequenz von Gottes Tod ist. Der Verrückte sagt
angesichts des Verschwindens des Gottesmythos: „Was
thaten wir, als wir die Erde von ihrer Sonne
losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? [...] Irren wir
nicht wie durch ein unendliches Nichts?Haucht uns nicht
der leere Raum an?13 [...] Kommt nicht
immerfort die Nacht und mehr Nacht?“ (481, meine
Hvhbg.). Nacht und Dunkel sind demnach also die
paradoxen Folgen eines falsch verstandenen Lichtes der
Aufklärung – und in Nacht und Dunkel fühlt der Mensch
sich verloren, es fehlt ihm etwas. Die Topoi der
Verlorenheit und des Verlustes sind denn auch ein
literarisch in der Moderne immer wieder auftauchendes
Thema – man denke etwa an T.S. Eliots Waste Land. Aber
die Unzufriedenheit mit einer entzauberten Moderne
finden wir, neben vielen anderen Autoren, auch bei
Tolkien – seine Welt Mittelerde ist eine Art künstlicher
Mythos, geschrieben nicht – zumindest nicht allein – mit
der erklärenden oder therapeutischen Intention des
klassischen Mythos, nichtsdestotrotz aber sich
mythischer Mittel bedienend und die in der Moderne
unvollständig gewordene reale Welt reflektierend. Dies
wurde in der Folge immer klarer erkannt und Mythos und
mythisches Denken erlangten wieder mehr Beachtung und
wenn schon nicht eine welterklärende, so doch ihre
therapeutische Rolle in Psychologie (Freud, Jung),
Philosophie (Cassirer, Blumenberg) und Soziologie
(Eliade) zurück.
Die Nachricht vom Tod des Mythos, dessen sich Neuzeit und
Moderne auf den ersten Blick so gewiss schienen, war wohl
doch etwas verfrüht. Das Pendel schlug in den vergangenen
500 Jahren zwar zuerst heftig zugunsten des Logos aus, doch
hinterließ dies auf einer intuitiven und emotionalen Ebene
eine Lücke, die Unzufriedenheit und Orientierungslosigkeit
bewirkte. Eine Lücke, die erst das mythische Denken zu
schließen imstande ist.
Der Mythos Jetzt und
Hier
Was 'haben' wir also heute vom Mythos? Er kann heilen und
zu heilen heißt, Dinge wieder zu ihrer Ganzheit zu führen;
sie sind heile, wenn all ihre Teile wieder am rechten Platz
sind. Der Mythos war als Welterklärungsmuster aber auch als
Therapeutikum angetreten. Die Welt zu erklären, vermochte
er aber vielleicht niemals wirklich. Denn was wurde wohl
wirklich geglaubt in dem Sinne, dass Menschen überzeugt
gewesen wären im Mythos Fakten vermittelt zu bekommen?
Glaubten die Menschen wirklich Himmel und Erde seien aus
dem Körper Tiamats entstanden? Glaubten Sie dass das Feuer
ihnen von Prometheus geschenkt worden sei? Das muss
ungewiss bleiben. Aber ich denke die Menschen begriffen
immer schon, dass die Ordnung dem Chaos abgerungen werden
muss und das eben deshalb das Leben immer auch Kampf ist.
Und sie verstanden intuitiv, dass der Gebrauch von Feuer
und Technik die Menschheit der umgebenden Natur
unwiderruflich entfremdete, dass es aber für den haarlosen
Zweibeiner keine Alternative zu Technologien geben würde.
Beides sind Beispiele für nicht unbedingt glücklich
machende Erkenntnisse. Glück zu spenden vermag der Mythos
auch nur in den seltensten Momenten; aber er vermag es sehr
oft, Menschen mit den Faktizitäten des Seins zu versöhnen
und zugleich Ausblick und Hoffnung darauf zu geben, dass da
irgendwo noch etwas ist, das über diese Welt hinausgeht,
Horatio ... Mythisches Denken bleibt ein Therapeutikum. Ein
Therapeutikum das viele vielleicht nicht brauchen werden,
das aber immer da ist und dessen man sich immer bedienen
kann – manchmal auch jene, die davon überzeugt sind, seiner
niemals zu bedürfen. So falsch, wie Novalis meinte, ist das
moderne Wesen gar nicht und wir würden wohl kaum überleben,
wenn es plötzlich fortflöge, doch es tut der Moderne gut,
wieder auf das „geheime Wort“ zu hören.
Und welche Bedeutung hat der Mythos für die Fantasy?
Fantasy ist in den meisten Fällen (auch) eine Inszenierung
mythischen Denkens,14 sei es
actiongeladen auf der Brücke von Khazad-dûm oder
kontemplativ in der Atrabeth Finrod ah Andreth. Der
Mythos vermag dabei innerhalb der Werke wie auch
außerhalb in der Primärwelt zu funktionieren
(„applicability“ in Tolkiens Sinn). So verstanden wehrt
sich Fantasy auch gegen die ernüchterte Moderne und
einen übermächtigen Logos. So verstanden berührt Fantasy
die „mächtigere Realität“ jenseits der Grenzen der
Erfahrung und bietet sich auch an, Sinn zu verleihen.
Und die Lektüre von Eine kurze Geschichte des Mythos
hilft, das zu begreifen: „Wenn professionelle
Religionsführer uns nicht in mythischer Weisheit zu
unterweisen vermögen, können unsere Künstler und
Romanschriftsteller vielleicht diese priesterliche
Aufgabe übernehmen und unserer verlorenen, beschädigten
Welt neue Einsichten bringen“ (134).
1 Hier ist nicht der Ort, auf die
Zweifel an der Faktizität der Realität einzugehen, die
bspw. in der Philosophie prinzipiell erhoben werden
oder die sich in postmodernen Theoriegebäuden und der
Anwendung konstruktivistischer und
dekonstuktivistischer Thesen ausdrückt. Die genannten
Zweifel an einer einheitlichen und objektiv
erkennbaren Realität haben nämlich insofern nichts mit
dem Mythischen zu tun als sie bei allem Zweifel den
Schritt in die Transzendenz nicht gehen, der für das
Mythische konstitutiv ist.
2 Zu Newton vgl. die
Principia
Mathematica, zu Laplace vgl. die
Théorie
analytique, zu Locke vgl. Zwei Abhandlungen über die
Regierung;
zu Pascal vgl. Gedanken, zu Keats vgl. Lamia, ein Gedicht, das den Widerstreit
von Mythos und Logos und den vermeintlichen Triumph
des Logos sehr schön illustriert, wie in den
folgenden Zeilen zu sehen ist:
„...
There was an awful rainbow once in heaven:
We know her woof, her texture; she is given
In the dull catalogue of common things.
Philosophy will clip an Angel’s wings,
Conquer all mysteries by rule and line,
Empty the haunted air, and gnomed mine—
Unweave a rainbow, as it erewhile made
The tender-person’d Lamia melt into a shade.“
...“
(John Keats: Lamia, Zeilen 231 – 238)
Der Topos von Lamia wurde in der Romantik mehrfach
aufgegriffen, im deutschen Sprachraum besonders
beeindruckend ist Novalis´ - im Gegensatz zu Keats
hoffnungsvolle – philosophische Poetik zu diesem Thema:
„Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren
Sind Schlüssel aller Kreaturen
Wenn die so singen, oder küssen,
Mehr als die Tiefgelehrten wissen,
Wenn sich die Welt ins freie Leben,
Und in die Welt wird zurückbegeben,
Wenn dann sich wieder Licht und Schatten
Zu echter Klarheit werden gatten,
Und man in Märchen und Gedichten
Erkennt die wahren Weltgeschichten,
Dann fliegt vor Einem geheimen Wort
Das ganze verkehrte Wesen fort.“
(Novalis: Wenn
nicht mehr Zahlen und Figuren)
3 Ein Glauben übrigens, der in der
westlichen Welt allein von einer schon immer im
Mythos verwurzelten Institution nicht geteilt
wurde: der katholischen Kirche.
4 Auch in Australien,
Neuseeland. In Afrika, Asien, Mittel- und
Lateinamerika ist die Bedeutung des Mythos nie
in dem Maße angezweifelt wie im sich
entwickelnden westlichen Kulturkreis.
5 „Die erforderlichen
selbstreflektorischen Fähigkeiten sind an die
kognitive Leistungsfähigkeit des gehirns
gekoppelt und können für den entwickelten Homo
erectus aufgrund der erkennbaren biologischen
und kulturellen Standards erwartet werden“
(Weniger 2001, 57)
6 Vgl. Weniger 2001, 62.
7 Dass es auch dabei
mystische und mythische Elemente gab, die
besonders in der Fantasy dann gerne
aufgenommen werden (Elrics Schwert bei
Moorcock, die Ringe bei Tolkien, Tomas´
Drachenrüstung bei Feist usw.) ist
bekannt, aber in diesem Zusammenhang von
untergeordneter Bedeutung.
8 Platons
Politeia
und des
Aristoteles Metaphysik
sind die
eindeutigsten Belege für eine
angestrebte Unterordnung des Mythos
unter den Logos (vgl. die Rechtfertigung
der Vertreibung der Dichter aus dem
Staat, Politeia
603a –
607a und Metaphysik
1000a9 –
1000a19, besonders den Schluss 1000a18 –
19: „Doch es gehört sich wohl nicht,
mythische Weisheit in ernstliche
Betrachtung zu ziehen“). Während Platon
den Mythos nur noch als Mittel der
Illustration benutzt, liest Aristoteles
Mythen als Beschreibungen des Faktischen
und musste sie natürlich verwerfen (vgl.
Armstrong, 2005, 92f.).
9 Wer dies wie Anselm
von Canterbury versuchte, scheiterte
später (wie Kant nachwies), sprach
aber von Anfang an eine Sprache, die
nur für die allerwenigsten
verständlich war und jegliche
Popularisierung schon deshalb
verhinderte..
10
Was
natürlich auch mit dem Verlust
antiker Gelehrsamkeit in der Folge
des Zusammenbruchs Roms zu tun hat
und damit starke außerhalb von
Mythos und Logos selbst liegende,
historische Gründe hat.
11
Kant
war sicherlich kein Freund
mythischen Denkens, sondern
stellte die Vernunft als strikt
rationale Verstandestätigkeit über
alle anderen menschlichen
Vermögen, wie man ausführlich etwa
in der Anthropologie in
pragmatischer Hinsicht, Abt. Vom
Erkenntnisvermögen nachlesen kann
(KWA XII, hier bes. 506 – 512).
Aber die Aufklärungsschrift ist
eine Polemik gegen die
Unmündigkeit und nicht gegen das
Irrationale.
12
Gottes Tod ist
an verschiedenen Stellen von
Nietzsches Schriften Thema. Die
eindrücklichste findet sich
in Die
fröhliche
Wissenschaft,
Aphorismus 125 (Nietzsche KSA 3,
480ff.).
13
Ganz ähnlich
schon zweihundertfünfzig Jahre
früher Blaise Pascal: „ ...
wenn ich bedenke wie das ganze
Weltall stumm ist ...“ (Pascal
1987, 94).
14
Frenschkowski
geht sogar davon aus, dass
etwa Tolkiens Mittelerde,
die sicherlich
wirkungsvollste aller
Fantasyerzählungen, bewusst
und in „narrative[r]
Gleichrangigkeit [...] mit
den großen Mythen der Inder
und Germanen, Griechen und
Kelten, Indianer und
sonstigen Völker behauptet
und inszeniert“ wurde
(Frenschkowski, 2006, 249).