Prekariat: mein Unwort des Jahres
Schauen wir uns dieses Wort einmal an. Prekariat ist
abgeleitet von prekär, was laut Duden soviel wie
„schwierig“ oder „heikel“ heißt. Angehängt wurde dann
nur eine von „Proletariat“ entlehnte Nachsilbe. Laut
Wikipedia ist „Prekariat ist
ein Begriff aus der Soziologie und definiert
‚ungeschützte Arbeitende und Arbeitslose’ als eine
neue soziale Gruppierung“. Und wer fällt darunter?
Wikipedia weiß: „Betroffen sind einkommensschwache
Selbstständige und Angestellte auf Zeit,
Praktikanten, auch chronisch Kranke,
Alleinerziehende, Zeitarbeitnehmer und
Langzeitarbeitslose, aber zunehmend auch in
wissenschaftlichen Arbeitsverhältnissen
Angestellte: Prekariat definiert keine sozial
homogene Gruppierung.“
Okay, das Prekariat sind also Leute ohne, mit
geringem oder mit unsicherem Einkommen. Ja, die gibt
es. Das ist Sch****, aber es gibt sie, und zwar in
viel zu großer Zahl. Und die sind also „schwierig“
und „heikel“ – das ist aber eine schöne Art, Menschen
zu charakterisieren ... Denn diese Zuschreibung muss
man doch wohl wörtlich nehmen, so wie man im 19.
Jahrhundert Proletarier als Sammelbegriff für
besitzlose, abhängig Beschäftigte wörtlich meinte,
was von „proletarius“ abstammte und die niedrigste
Schicht im römischen Volk meinte, die zu nichts
anderem gut war, als Kinder zu produzieren, die dann
beispielsweise in den Legionen zu dienen hatten, wenn
sie nicht gleich versklavt wurden.
Doch „Proletariat“ ist ein Substantiv, das eine
Gruppe von Menschen beschrieb, eben die Angehörigen
einer besitzlosen Bevölkerungsschicht im alten Rom,
die proletarii, und später die Gruppe der abhängig
Beschäftigten im 19. Jahrhundert. Proletariat
klassifiziert also anhand eines Faktums. Prekariat
klassifiziert nicht nur sehr ungenau, wenn man mal
auf die heterogene Wikipedia-Definition schaut,
sonder es klassifiziert auch anhand einer nicht
objektiv haltbaren Zuschreibung, ist prekär doch ein
Adjektiv – „heikel“ eben. „Heikel“ und „schwierig“,
damit also auch „gefährlich“. Keine substantivisches
Faktum, sondern eine subjektive, adjektivische
Zuschreibung. Das ist immer auch eine Aussage über
angebliche Eigenschaften der so klassifizierten
Menschen.
‚Prekarier’ sind „heikel“?
Quatsch, es ist ihre Situation, die heikel ist;
prekär zu leben ist aber kein Merkmal der Menschen
selbst. „Aus prekären Arbeitsverhältnissen folgen
prekäre Existenzweisen“, schreibt Thomas Gross in der „Zeit“. Das
stimmt natürlich. Durch das Ankleben des Adjektivs
prekär wird die Situation nur noch verschlimmert.
Denn unterbewusst eignen sich die Angehörigen der
Gruppe der prekär lebenden Menschen diese
Zuschreibung mehr oder weniger stark an und
verlieren dadurch an Kraft, Selbstvertrauen und
Änderungswillen. Und auch die Nichtprekarier
übernehmen die heikle Zuschreibung mehr oder
weniger bewusst, wollen mit diesen „schwierigen“
und „gefährlichen“ Menschen nichts zu tun haben
und wünschen nicht, dass ihre Kinder mit ‚deren’
Schmuddelkindern spielen oder lernen. (Ach wie
gut, dass wir ein dreigliedriges Schulsystem
haben, da bleiben die Schmuddelkinder unter sich
...).
Ist schon klar: Worunter die vom wirtschaftlichen
Erfolg abgehängten Menschen hierzulande leiden, ist
sicherlich erst in dritter oder vierter Linie das
Wort Prekariat – kein Geld, keine Arbeit; krank,
unglücklich und mittlerweile sogar wieder hungrig zu
sein, das sind die wahren Probleme. Aber man darf die
Macht der Sprache und die Kraft der sich selbst
erfüllenden sprachlich verfassten Prophezeiungen
nicht unterschätzen.
Deshalb lautet mein Unwort des Jahres 2008:
Preka****.