Von teilrationalen Eichhörnchen oder Warum Kopenhagen scheiterte

Die Klimaschutzkonferenz in Kopenhagen ist vollkommen gescheitert - anders kann man es nicht ausdrücken. Woran lag das? Abseits der heute, Montag, 21.12., in den Medien meist vorgebrachten Erklärungen über zwischenstaatliches Misstrauen, Wirtschaftsinteressen, Machtstreben und dem Versagen von internationalen Organisationen, lässt sich jedoch der Mensch als solcher als Grund für das Scheitern von Kopenhagen festmachen. Denn er ist leider zu schlau für ein Eichhörnchen ...

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Für den Winter gilt es, Nüsse zu sammeln, ...

Wir haben eine ganz fatale, unheimlich riskante Evolutionsstufe erreicht: Eine Menge intellektuelles Können gepaart mit nur teilweiser Vernunft, die ständig von unserer irrationalen Seite in Bedrängnis gebracht wird. So sind wir halt, und die meisten wollen wohl auch nicht anders sein, aber es wird immer wahrscheinlicher, dass das die überwiegende Mehrheit von uns umbringt.

Was wir bräuchten, um die Erderwärmung zu stoppen, ist eine umfassende internationale Zusammenarbeit, die darauf basiert, dass Opfer gebracht werden müssen. (Keine unerträglichen Opfer, aber doch eindeutige Einschränkungen des Lebensstiles einerseits und der Verzicht auf das Erlangen von tollen Bequemlichkeiten und Lebensstilen, die andere seit 50, 60 Jahren genießen, andererseits.)

Diese Opfer müssen zudem vor dem Hintergrund gebracht werden, dass keinerlei fühlbarer Erfolg eintreten wird. (Denn wir versuchen einen Zustand nicht eintreten zu lassen, der in 50 bis hundert Jahren fatal werden wird, bis dahin wird es sowieso schlimmer werden.) Selbst wenn ein durchschlagender Erfolg eintreten würde, würden wir den nur anhand von Zahlen in Tabellen ‚erfahren‘ können. Das ist nichts, was Begeisterung hervorruft und nichts, womit ein Politiker auf den Marktplätzen in der Vorwahlzeit Euphorie anfachen könnte.

Und bei diesen beiden Punkten - Opfer bringen müssen, keine Erfolge verspüren - schlägt unser biologischer Unterbau zu. Zuerst sind wir wie alle Lebewesen Überlebensmaschinen. Dann sind wir soziale Wesen, denn das verhalf uns in grauester Vorzeit zu besseren Chancen im Überlebenskampf. Und dann sind wir auch noch teilvernünftig, denn das verbesserte unser Überleben ohne Klauen, Reißzähne und lange, schnelle Beine noch einmal beträchtlich.

Als Überlebensmaschine sind alle Wesen darum bemüht, die dafür nötigen Ressourcen zusammenzuhalten. So auch wir. Wie das Eichhörnchen sammeln wir die Nuss-Äquivalente, die wir brauchen, um durch den harten Winter des Lebens zu kommen. Das Eichhörnchen hört jedoch instinktiv mit dem Nüssesammeln auf, wenn es genug zusammenhat, um den Winter zu überleben.

Wir können jedoch vorausdenken und uns überlegen, dass ja vielleicht ein fauleres Eichhörnchen kommen könnte, um unsere Nüsse zu klauen. Also sammeln wir mehr. Teilweise tun wir das beispielsweise, um andere Eichhörnchen zu bezahlen, die unseren Nussvorrat bewachen. Außerdem können wir uns vorstellen, dass ein Förster kommt und den Baum mit unserem Nussvorrat fällt. Also legen wir weitere Lager auf anderen Bäumen an; beispielsweise in Liechtenstein, wo es keine Förster gibt. Insgesamt ist es aber schlecht, zu viele Nüssen zu sammeln, die dann in Lagern verrotten, weil wir sie gar nicht aufessen können, denn ein Teil dieser Nüsse würde eigentlich benötigt, dass neue Bäume wachsen können, die dann wieder Nüsse spenden usw.

Als soziale Wesen sind wir zum Glück nicht völlig dämlich, sondern teilen wenigstens unsere Nüsse. Innerhalb der Familie, im Freundeskreis, und wenn dann noch was übrig ist, mit dem Rest des Dorfes. Aber nicht mit dem Nachbardorf, denn was haben wir mit den Fremden von dort zu schaffen? Dieser ursprünglich rein familiäre Bezug zum eigenen Rudel, der eigenen Sippe ist ein biologisches Erbe, das wir mit anderen Sippenwesen wie den Schimpansen teilen. Schimpansen sind rührend besorgt innerhalb der Sippe, Schimpansen ziehen gerne mal los und löschen eine benachbarte Sippe von Schimpansen aus (um an deren Nüsse zu kommen). Wie menschlich!

Jetzt haben wir uns aber außerdem noch zu ziemlich effektiver Intelligenz hinentwickelt ... und damit wird es fatal. Denn wir alleine können nun Nuss-Sammelmaschinen bauen. Und die sind in den letzten zweihundert Jahren unheimlich gut geworden. So gut, dass wir jetzt alle Nüsse des Waldes in Nullkommanix aufgesammelt haben. Ooops. Aber weil wir so schlau sind, haben wir natürlich auch erkannt, dass Letzteres ziemlich dämlich war. Also, schnell an die Vorratslager gegangen und die Hälfte der Nüsse wieder im Wald verteilen, damit neue Bäume angehen. Es bleibt ja genug übrig für den Winter!

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... aber wenn man das übertreibt, gibt es bald gar keine mehr.

Außer natürlich hinten, in der Schmuddelecke des Waldes, wo die Bäume sowieso nicht so schön wachsen. Da haben sie jetzt aber auch Nuss-Sammelmaschinen gebaut und stehen kurz davor, auch mal sorgenlos durch den Winter zu kommen. Bloß - wenn der Wald erhalten werden soll, dann ist es nötig, dass die da hinten ihre Maschinen nicht einsetzen. Und dass wir außerdem unseren halben Nussvorrat aufgeben. Wir alle! (Aber man hört, dass die da an der Teichschonung nur ein Viertel der Nüsse abgeben wollen. Und im Buchenhaag auf der anderen Waldseite, die wollen sogar gar nichts zurückgeben - sagt man.) Da können wir also leider auch nix abgeben, sonst wird unser Teil des Waldes vielleicht auch zur Schmuddelecke. Wir sind es unseren Kindern schuldig, die Nüsse zusammenzuhalten, denn die sollen mal ein besseres Leben haben!

Und deshalb scheiterte Kopenhagen ...

Bildungsausgaben in Deutschland werden massiv erhöht! Hurra?

So ist das, wenn die Bildung in die zupackenden Hände der Finanzminister gerät - endlich passiert was. Die Bildungsausgaben in unserem Lande werden - um das gesteckte Ziel zu erreichen, mit 10 Prozent der Bruttoinlandsproduktes wenigstens annähernd an das Niveau bildungspolitisch entwickelter Nationen anzuschließen - massiv erhöht, hat die Finanzministerkonferenz der Länder beschlossen.

Und das kostet nicht mal was, wie schön ...

Denn die Mittelerhöhung besteht aus Buchungstricks. So besitzen Kommunen und Länder bekanntermaßen tausende von Immobilien. Teilweise sind das richtig schicke Dinger, wie etwa die schönen alten Universitätsgebäude in Städten wie Berlin, Tübingen, Heidelberg, Jena usw. Und so gut wie all diese Liegenschaften kosten ja eigentlich nix, denn sie sind im Besitz der öffentlichen Hand.

Ätsch, jetzt kosten sie aber doch, denn nun dürfen die Bundesländer in ihre Bildungshaushalte die Kosten von „fiktiven Mietzahlungen für die Liegenschaften von Schulen, Hochschulen und Kindertagesstätten“ einrechnen (TAZ vom 15.12., S. 3). So entstehen „kalkulatorische Unterbringungskosten in Höhe von 10 Milliarden Euro“ (so ein von der TAZ zitiertes Strategiepapier der Finanzministerkonferenz). Und diese 10 Milliarden Mehrausgaben bessern die Statistik entscheiden auf, so dass reichlich versprochenes Geld übrig bleibt, etwa um Übernachtungen in Luxushotels durch Mehrwertsteuerermäßigung zu subventionieren. „Leidtragende sind lediglich Schüler und Studenten“, so die TAZ.

Außerdem sollen die Bildungsausgaben um einen weiteren massiven Posten angereichert werden. Die Pensionszahlungen für ehemalige Lehrer und Professoren werden demnach in toto den Bildungsausgaben zugerechnet. Jeder sich die Restlebenszeit auf dem Tennisplatz vertreibende Expädagoge verbessert demnach hierzulande statistisch die Bildungsbemühungen. Der OECD, die uns ja schon lange damit nervt, dass wir zuwenig für die Ausbildung der jungen Menschen tun, kann dies dann genüsslich in den nächsten internationalen Bildungsreport untergeschoben werden.

Es ist zum Heulen! Und beängstigend.

Die Politik bietet ein dermaßen schwaches Bild, das man sich um die Demokratie immer mehr Sorgen machen muss, obwohl sie eigentlich die einzig ethisch-sozial angemessene Form des Regierens ist. Aber wenn eine neue Regierung schon in den ersten zwei Monaten solche Bilder bietet (der steuerpolitische Totalfehlschlag, das Wegducken beim Klimagipfel und die Verschleierungsaffäre um die Ereignisse in Afghanistan gehören auch dazu), ist das eine demokratiepraktische Katastrophe, die unmittelbar an Weimarer Eindrücke anschließt.



FedCon 2010: polyoinos goes SF

Nachdem ich als Vortragender auf jeder RingCon gewesen bin, haben wir für die kommende FedCon abgesprochen, dass ich nun auch dort mit Vorträgen auftreten werde. Für mich ist das eine willkommene Gelegenheit, über dieses Genre der Phantastik zu schreiben; an Themen mangelt es ja nun wahrlich nicht.

Wenn man Fantasy salopp als das Genre bezeichnen kann das fragt „Wie ergeht es uns?“, ist die Science Fiction das Genre, das sich mit der Beantwortung der Frage „Was machen wir?“ beschäftigt.

Fantasy dreht sich um den Einfluss des Übersinnlichen und sucht letztlich, Sinnfragen zu beantworten. Fantasy findet in der Regel ein bestimmtes Setting als gegeben vor und untersucht, wie der Mensch mit existenziellen Dingen wie dem Bösen, dem Guten, absoluter Macht und Ohnmacht umgeht.

Sci Fi beschäftigt sich demgegenüber mit dem, was der Mensch machen oder lassen kann - auch wenn es typischerweise um Dinge geht, die er noch nicht machen kann, wie interstellare Reisen, Zeitreisen, künstliche Evolution u.v.a. Was Sci Fi nun verhandelt, ist, was wäre, wenn der Mensch dies oder jenes machen könnte - sich selbst intelligenter zum Beispiel -; spekuliert wird darüber, welche Auswirkungen das Tun oder Lassen psychologisch, politisch, sozial usw. hätte.

Die Phantastik ist schlicht nicht vollständig bedacht, wenn man sich nur mit Fantasy oder nur mit Sci Fi beschäftigt (Horror gehört auch dazu, hat aber als Genre, das sich über seine Effekte und nicht über die Inhalte definiert, eine etwas andere Ausrichtung); zusammengenommen aber ergeben sie das für mich faszinierendste Bild aller kulturellen Ausdrucksformen.

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Wohin führt die Phantastik?

Deshalb freue ich mich auch sehr über die Einladung zur FedCon, erstens weil sie mich wieder in Kontakt mit den Leuten bringt, die von Sci Fi begeistert sind und zweitens weil ich nun endlich den Anlass (und auch einen gewissen Druck) habe, meine schon lange gärenden SF-Überlegungen zu Tastatur zu bringen.

Für die kommende FedCon, die vom 30.4. bis zum 2.5. in Bonn im Hotel Maritim stattfindet, sind das konkret zwei Themen. Die Vortragstitel lauten:

1. Die Prometheus-Papiere. Ein kurzer Überblick der wichtigsten Werke und Ereignisse in der Geschichte der Science Fiction.

2. Aufbruch zu den (Noch-)Nicht–Orten. Wo die Science Fiction hinführt.

Ich würde mich natürlich sehr freuen, Sie dort zu treffen. Klappt das nicht, sind Sie wie immer herzlich eingeladen, ab der ersten Mai-Woche die Verschriftlichung der Vorträge hier auf polyoinos zu lesen. Das wird aber auch im Blog angekündigt, also klicken Sie doch einfach auf den RSS-Feed rechts, um sofort unterrichtet zu werden.


Aus gegebenem Anlass: Mal wieder Thema Eskapismus

Das Nachrichtenmagazin Der Spiegel macht diese Woche mit einer seiner berüchtigt pessimistischen Titelgeschichten über die aktuellen Zeitläufte auf und analysiert die Zeit von 2000 bis 2009 als das „Verlorene Jahrzehnt“, in dem der 11. September, die Finanzkrise und der Klimawandel für eine umfassende Wende zum schlechteren, verbunden mit dem Verlust fast aller Hoffnung, verantwortlich gemacht werden. Illustriert wird das nach Meinung der Autoren auch und besonders charakteristisch durch den großen Publikumserfolg von Harry Potter und der Verfilmung von Der Herr der Ringe. Dieser Erfolg hat selbstverständlich nichts mit der Qualität der beiden Werke zu tun, sondern ist Ausdruck einer allgemeinen Weltfluchttendenz angesichts der hoffnungslosen Situation des Lebens auf unserem krisengeschüttelten Planeten. Die beiden märchenartigen Geschichten entführen ihre Zuschauer und Leser in bessere Welten, um sie des Nachdenkens über echte Probleme zu entheben - mal wieder Thema Eskapismus. Ein Eskapismus natürlich, das insinuiert schon die Nennung in dem Zusammenhang mit dem Verlorenen Jahrzehnt, der individuell wie gesellschaftlich und politisch von größter Verantwortungslosigkeit zeugt, denn wer Tolkien liest, kümmert sich schließlich nicht gleichzeitig um den Weltfrieden.

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Türen in fremde Welten helfen ...

Allerdings haben sich die Spiegel-Redakteure, wie ich finde, keinen Gefallen damit getan, ausgerechnet diese beiden Fantasyerzählungen auszuwählen. Und damit ziehe ich mich nicht auf die bekannte Replik des Herr-der-Ringe-Autors Tolkien zurück, dass Fluchten ins Phantastische angesichts der nüchtern-trostlosen Moderne legitime Fluchten eines Gefangenen aus dem Gefängnis einer ent-ästhetisierten Welt sind.

Ich halte die Beispiele Harry und Mittelerde für schlechte Eskapismusbeispiele, weil sie beide überhaupt nicht weltabgewandt sind. Doch der Spiegel hält sie für „KIndergeschichten“ und schließt im Weiteren: „Man zieht sich zurück in eine infantile Welt, in der herzige Helden das Böse besiegen.“ Und das natürlich nur, um den Kopf in den Sand zu stecken: „Das moderne Märchen ist die Antwort auf eine ruppige Welt.“ (Alle Zitate S. 154.) Oh ja, Verantwortungslosigkeit pur!

Die „herzigen Helden“ sind natürlich die übliche Spiegel-Polemik und wären gar nicht so schlimm, wenn sie auch nur annähernd den Werken entsprächen, denn schließlich sei auch dem Spiegel gestattet, seine Punkte zu machen, wie er es für richtig hält. Aber anhand dieser Beispiele zeigt sich einfach, dass die Herren Kurbjuweit und Steingart sowie Frau Theile schlicht keine Ahnung haben, wovon sie schreiben.

Wo nämlich die Herzigkeit zu finden sein soll, kann sich dem Publikum nicht erschließen. Etwa in den Folterszenen zwischen Dolores Umbridge und Harry Potter? Oder wenn Sam und Frodo sich am Ende ihrer Kräfte durch die tödliche Ödnis Mordors schleppen? Egal. Geschenkt, würde ich sogar sagen - denn die Bemerkungen sind ja nur Randnotizen zum großen Thema des Artikels -, wenn nicht die Werke und das Publikum damit erstens en passant mal wieder beleidigt würden und zweitens nicht schon wieder der unzutreffende Gemeinplatz bedient würde, dass Fantasy mindestens belanglos, vielleicht aber sogar gefährlich ist, denn sie verhindert ja den Blick auf die wichtigen Dinge.

Aber schauen Sie sich diese herzigen Welten doch einmal an. Nein, es muss gar nicht das bedrückende verheerte Land sein, in das der ‚herzige’, an Lepra erkrankte Held Thomas Covenant geworfen wird (von dieser Fantasy-Serie redet der Spiegel ja auch nicht - meine Entschuldigung). Nein, ich meine das ach so herzige Hogwarts und die herzige Welt Mittelerde.

In Hogwarts erlebt Harry Potter in 7 Bänden eine typische Coming-Of-Age-Geschichte, einen Entwicklungsroman wie es ihn seit Jahrhunderten gibt; klassisches Literaturarsenal sozusagen. Lässt man einmal die phantastische Kulisse beiseite, so findet man eine durchaus realistische Geschichte über die Probleme des Aufwachsens. In höchstem Maße zugespitzt zwar, aber Zuspitzungen sind völlig normal in allen Arten von Romanen und Filmen, um die Punkte zu verdeutlichen, über die die Autorin, der Regisseur Aussagen machen möchte. Dass die Zuspitzungen bei Harry Potter bis ins Übernatürliche hineinreichen, ist weder für die Form noch für die Aussage von Belang. Todes- und Liebeszauber in Fantasy sind nichts weiter als Metaphern für menschliches Handeln. Worauf es ankommt, ist, ob die Geschichte als Geschichte überzeugt und anspricht. Und die ist komplex und reichhaltig, die Charaktere besitzen Tiefe und die Entscheidungen, die den Protagonisten abverlangt werden sind schwierig und folgenschwer - ganz ähnlich wie jeder Jugendliche zu ahnen beginnt, dass alles, was er tut komplex und folgenschwer ist. Jedenfalls ist es keine infantile Welt, in der einfach mal so das Böse besiegt werden kann.

Auch Mittelerde ist keine Welt, in der rechts das Böse und links das Gute stehen und Links mal eben nach Rechts rüberrennen kann, um die Geschichte in allgemeinem Wohlgefallen aufzulösen. Nicht einmal bei Jackson ist sie das ... und um wie viel weniger bei Tolkien, wie Steingart, Kurbjuweit und Theile leicht einsehen sollten, wenn sie sich mal mit Feanor oder Turin befassten oder auch nur über Gollum nachdächten, von dem auch sie schon gehört haben dürften. Es ist eine noch einmal deutlich komplexere Welt als Hogwarts, die Tolkien da erschaffen hat, in der es Unmengen an Gedanken, Überzeugungen und Ideen zu entdecken gibt. Allein der melancholische Niedergangscharakter - der ebenfalls bei Jackson zu sehen ist - gibt schon so vieles zu bedenken, dass nicht wenige Kritiker Tolkien deshalb in eine Reihe mit den großen Kriegspoeten wie T. S. Eliot und Erich Maria Remarque gestellt haben. Herzig? Nein, Modernitätskritik und der Tod auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs finden ihre phantastisch vebrämte Aufarbeitung.

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... die Tür zur eigenen Welt zu öffnen

Und die vermeintlichen happy endings? Sie sind es ja wohl, die den Hauptimpuls zum Eskapismus bergen, über den die Autoren sich mokieren. Märchen - und selbst die sind nicht so naiv wie der Spiegel-Artikel es wohl gerne darstellen würde - enden oft mit der Aussage, dass nach den Ereignissen alle glücklich und zufrieden leben, eventuell bis heute und gleich um die Ecke. Doch welches Fazit können die Helden Harry und Frodo ziehen? In Harrys Fall endet die Geschichte glücklich, aber das Happily-Ever-After-Gefühl stellt sich nicht ein. Es ist gut, aber es fühlt sich eher an wie: „Es ist geschafft.“ Und es war verdammt hart, dorthin zu gelangen. Exakt so, wie sich der vollzogene Austritt aus der Jugend anfühlt. Und für Frodo - und die gesamte Welt Mittelerde, die nun auf allen elbischen Zauber verzichten muss - gibt es überhaupt kein Happy End, denn seine Wunden sind so tief, dass er es nicht mehr in der Welt, die er rettete, aushält und sie verlassen muss.

Harry und Frodo haben gelernt, dass man mitunter große Opfer bringen muss und bilden damit ab, was Menschen im wahren Leben tagtäglich erleben. Dass es überhaupt zu Enden kommt, bei denen wenigstens das Böse nicht triumphiert, verleiht unserer Minimalhoffnung Ausdruck, dass wir das Leben halbwegs anständig bewältigen werden und ist als solches nur legitim. Natürlich sind Hogwarts, Mittelerde und all die anderen zauberhafte Welten, die in sich hinein entführen wollen. Harry, Mittelerde und ein großer Teil der Fantasy erinnern uns aber auch daran, wie steinig der echte (Lebens-)Weg ist. Mit Weltflucht hat das nicht viel zu tun, viel eher ist es zutreffende Diagnose, von den Ärzten Rowling und Tolkien - so wie jeder gute Arzt es machen würde - angereichert mit einem Schuss Hoffnung, der Mut macht, den Weg weiter zu gehen.