Realität

Es gibt nur eine (relevante) Realität

Ich las gerade den schönen kleinen Artikel "Virtuelle Freunde im digitalen Ozean" von Christian Ruch im "EZW Materialdienst" September 2009, in dem der Autor am Beispiel Facebook das Phänomen sozialer Netzwerke diskutiert und unter anderem auch auf Realität und die Bedingungen der Konstruktion von Realität im Zeitalter der Vernetzung eingeht. Und an den ontologischen Betrachtungen (Ontologie = die Lehre vom Sein; die Lehre von dem, was ist) verhebt er sich, wie so viele.

Ruch - selbst "begeisterter" Facebook-Nutzer, wie er schreibt - beobachtet klug, welche immer weiter zunehmende Bedeutung soziale Netzwerke im privaten wie auch im öffentlich-politischen Leben haben. Nur kann er es, wie der in Mediendingen hypertrophe Norbert Bolz und viele andere Intellektuelle und Wissenschaftler, nicht lassen, aus der Nutzung sogenannter virtueller Realitäten weitestgehende - und unhaltbare - ontologische Schlüsse zu ziehen.

Am Beispiel von Facebook "zeigt sich", so Ruch, "einmal mehr, dass die Grenze zwischen Realität und Simulation verschwimmt."
Ja, hört man immer wieder.
Ist auch nachvollziehbar.
Ist aber trotzdem falsch.

Nicht eine ontologisch gegebene Grenze zwischen Realitäten verschwimmt, sondern allenfalls die Wahrnehmnung derselben - und dagegen kann man leicht etwas tun, wenn man denn will.

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Nicht an der Nase rumführen lassen!

Aus einer zutreffenden Betrachtung der im Gehirn stattfindenden Informationsverarbeitung zieht Ruch den Schluss, dass die Unterscheidung zwischen Realität und Simulation keinen Sinn mache, und das stimmt in ontologischer Hinsicht wiederum, da muss man ontologisxch nix unterscheiden, man muss nur den jeweiligen Status kennen, also wissen, was Simulation ist und wa snicht, um sich nicht zu verirren. Wurzlen tut dies aber alles in unserem schnöden ollen Universum.

Es besteht die Möglichkeit der faktischen Existenz verschiedener Realitäten, aber die für uns physiologisch erfahrbaren, die Realitäten also, die wir sinnlich erfahren können, mit Auge, Ohr, Tastsinn, Zunge und Nase sind nur eine einzige Realität. Fraglich ist sogar, ob wir geistig überhaupt so ausgestattet sind, das wir gedanklich und praktisch mit multiplen Realitäten zurechtkommen könnten. Das aber für uns nur ein Universum da ist, das deshalb auch zurecht so heißt, trifft auch für die von Computern erzeugten Pseudorealitäten zu.

Das ist natürlich prosaischer und viel weniger geheimnisvoll als das Gerede von multiplen Realitäten und deren Auswirkung auf unsere Befindlichkeit. Dass es nur eine Realität gibt, mit und in der wir agieren, ist eine Wahrheit, die einmal darzulegen genügt. Das aber macht es schwierig, Dutzende von Artikeln und Bücher zu schreiben. Raunt man hingegen wie Herr Bolz, "das Wirkliche verschmilzt mit seinem eigenen Bild", lässt sich trefflich multipublizieren. Besteht nur die Gefahr, die Theoreme durcheinander zu bekommen (Das Wirkliche? - hatten 'wir' Postmodernisten das nicht abgeschafft?), aber auch daraus gibt es immer einen publizistischen Ausweg.

Die Wirklichkeit ist also "nicht mehr hinter den Bildern zu finden, sondern allein in ihnen", so wieder Bolz (dem Herrn ist, wie gesagt, schwer zu entkommen)? Das kann man jetzt natürlich so und so ausführen; sich mal auf ontologische Multiplizismen verlegen und mal gesagt haben wollen, "dass die Medienwirklichkeit" unsere "Erfahrung und Weltwahrnehmung diktiert"; wobei ersteres Unsinn, letzteres aber gar nicht so falsch ist. Nur wie meinen 'wir' Postmodernisten es denn jetzt?

Wir sollten uns zumindest erst einmal darauf einigen, dass es nur eine Realität gibt, zu der wir Zugang haben und die zu uns Zugang hat (was schon alles über die Relevanz anderer Realitäten aussagt). Computer sind gänzlich von dieser Welt; die Programme, die auf ihnen laufen, sind von weltlichen Personen mühsam von Hand geschrieben worden (IF, NOT, OR ...) und die virtuellen Welten von Facebook werden von weltlichen Personen bevölkert. Und selbst wenn sich irgendwann eine KI darunter mischen sollte, dann ist auch die von weltlichen Personen zusammengebaut worden und zum weltlichen Bestandteil unserer einen Realität geworden.

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Jedis in Bochum? Ja, aber diese Fremden sind auch nur von hier.


Selbst die unheimlichen Realitäten (den Pädagogen unheimlich) von "World Of Warcraft" und "Herr der Ringe Online" sind schnöde, von weltlichen Personen erdachte Geschichten, deren Verwurzelung in uns weltlichen Menschen sogar besonders tief ist, leben sie doch in der Regel von den Mythen und Archetypen, die uns seit Jahrtausenden begleiten.

Womit ich nicht sagen will, dass das alles unproblematisch wäre. Das ist es keinesfalls: Datenschutz, Suchtgefahr, Mobbing, Missbrauch, Kriminalität, Überwachungsstaat - es gibt keine Gefahr oder Perversion, die es nicht auch in den Netzen gäbe.

Nur eine Gefahr, die besteht bei Einsatz des gesunden Menschenverstandes nicht: Dass man sich in verschiedenen Realitäten verlieren (oder dorthin fliehen) könne. Ist auch besser so, wir sind mit der einen Wirklichkeit ja schon überfordert.




Der Realismus von Hellboy (und Fantasy überhaupt)

Gestern Abend habe ich mir in aller Ruhe zum Zweiten Mal Hellboy II, Die Goldene Armee angeschaut - ein Filme voller skurriler und bizarrer Fantasythemen, wie er irrealer und versponnener nicht sein könnte, sollte man meinen. Doch Hellboy ist nicht nur tolles Popcorn-Kino, sondern hat mich wieder einmal darauf gestoßen, wie realistisch die Phantastik eigentlich ist.

Urs Jenny schrieb im SPIEGEL vor zwei Wochen erst darüber, wie wenig die Fantasy mit der Realität zu tun hat, dass sie dazu dient, uns aus unserer trostlosen echten Welt ins Anderland flüchten zu lassen: „Die Fantasy-Literatur dagegen lockt mit Lebensfülle und satten Farben, mit einer Menagerie von Fabeltieren, mit glutäugigen Vampiren, ätherischen Elfen und drolligen Zwergen.“ Lieber Herr Jenny, die Fantasy arbeitet nur mit exotischen Bildern und Themen, aber sie erzählt doch über nichts anderes als die reale Welt und die echten Menschen!

In Hellboy II gibt es eine wunderbar kitschige Szene, in der sich Teufel und Wassermann voller Liebeskummer betrinken und gemeinsam Barry Manilows „Can´t smile without you“ singen (hier der Song und ein paar Bilder in einem YouTube-Video). Deutlicher kann man wohl kaum ausdrücken, dass all die Fabeltiere, Vampire, Elfen und Zwerge nichts anderes sind als Menschen wie wir. Sicher, oft sind sie reduziert auf einen oder wenige Aspekte - das absolut Böse, Gute, Kluge oder Dumme - aber es sind Menschen. Derartige Reduktionen kennt die realistische Literatur aber gleichermaßen, wenn sie irgendetwas auf den Punkt bringen will.

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Man könnte zwar mäkeln, dass die Fantasy oft den Holzhammer auspackt und ihre Aussagen manchmal mit wenig Subtilität und Finesse trifft oder dass eine Szene wie die genannte wegen ihres Kitsches nicht ‚den‘ Ansprüchen genügt. Aber über Geschmack lässt sich bekanntlich schlecht streiten und ob hunderteseitenlange Deskriptivergüsse, wie in Grass´ Ein weites Feld, der Erzählweisheit letzter Schluss sind, wäre genauso ein möglicher Diskussionsanlass. Die Qualitätsdiskussion ist eine andere.

Aber die Qualitätsfrage ist auch gar nicht die, die im Zusammenhang mit Fantasy üblicherweise zuerst thematisiert wird, sondern die unterstellte Belanglosigkeit des Genres, die aus der Irrealität seiner Themen und Figuren abgeleitet wird: Die Beschäftigung mit den Welten von Magie und Drachen lohnt nicht, weil es diese nicht gibt, wir also nichts von ihnen lernen können. Schwachsinn!

Wovon sollen denn bitte die Schriftsteller und Regisseure der Fantasy erzählen, wenn nicht von der Realität? Fantasymotive sind nichts anderes als die Verfremdung und Fokussierung menschlicher, realweltlicher Themen. Das Spiel mit Legende, Mythos und Phantasie dient dazu, durchzudeklinieren, was die Künstler und ihr Publikum bewegt. Oder, wie es die wunderbare Ursula Le Guin formuliert: „Realismus ist vielleicht das am wenigsten geeignete Mittel um unsere unglaubliche Realität zu verstehen oder darzustellen. Ein Wissenschaftler, der im Labor ein Monster erschafft; ein Bibliothekar in der Bibliothek von Babel; ein Zauberer, der daran scheitert, einen Zauberspruch zu wirken; ein Raumschiff in Schwierigkeiten auf seiner Reise nach Alpha Centauri: All dies sind präzise und grundlegende Metaphern der Bedingungen der menschlichen Existenz.“

Man muss nur für die kurzen Augenblicke von Lektüre und Filmgenuss den Unglauben aussetzen lassen, dann lernt man von der Phantastik nicht weniger als in der Philosophievorlesung.

“Can´t smile without you ...“

Ach ja, noch etwas: Del Toro drehte Hellboy I und II, vor allem aber Pans Labyrinth - ich glaube, da können wir uns bei der Verfilmung von Der Hobbit auf etwas Besonderes freuen ...