Tot, richtig tot? - ein paar neue Fotos
Aber bei meinem Besuch
hätte sich sowieso niemand aufregen können, der
Friedhof war leer. Und das zu den allermeisten Zeiten
wohl schon recht lang: Ich sah kein Grab, das jünger
war als 1930 und die Grabstätten und -steine sahen
aus, als habe sie ebenfalls seit 1930 niemand mehr
gepflegt. Bäume und große Büsche werden noch von der
Verwaltung zurückgeschnitten, wie frische Aststümpfe
beweisen, aber die Ruhestätten der Verstorbenen holt
sich die Natur zurück. Vor allem der Efeu, der
überall wächst und manches Kreuz schon abgebrochen
hat.
Doch es kommt kein Gedanke an Verwahrlosung auf. Es
ist als würden die Verblichenen nun langsam - ganz
langsam, nach 80 Jahren sind die meisten Grabsteine
immer noch weitgehend frei, wenn auch moosbewachsen,
verwittert, schief - in den Schoß der Erde
zurückkehren. Ich habe ein paar behutsame Fotos
aufgenommen, die ich Ihnen in einer kleinen Galerie von nur
elf Bildern gerne zur Ansicht bieten möchte.
Das ist natürlich kein Ersatz dafür, dort gewesen zu
sein, aber Friedhöfe kennen Sie ja; wahrscheinlich
ist dies Kennen für Sie mit Wehmut verbunden. Für
mich auch, aber nicht nur, denn ich besuche in jeder
neuen Stadt immer mindestens einen Friedhof. So auch
hier in Peterborough, an einem dunklen, feuchten Tag,
an dem der Himmel tief über der Stadt und der flachen
Region der Fenlands liegt. An dem ein fremder
deutscher Tourist, sich als einziger über die
Grabplatten beugt und liest, dass geliebte Menschen
hier unter der Erde liegen.
Wie tot sind diese Toten? Es heißt ja immer, dass die
Verstorbenen in unseren Herzen weiterleben, solange
wir uns ihrer erinnern. Erinnert sich noch jemand an
diese hier? Die letzten Menschen, die diese hier noch
gekannt haben können, sind jetzt 80 Jahre alt und
älter und sie sterben jetzt selbst bald. Sind diese
Toten hier dann richtig tot? Oder waren sie das schon
vorher?
Vor einem, auch mit Efeu bewachsenen Grab, liegt ein
fast frischer Strauß nur wenig verwelkter Blumen.
Hier erinnert sich noch jemand. Einer der Elizabeth
(✝
1926) und Frederick (✝ 1936) kannte?
Oder ein Nachkomme, dem von den beiden nur erzählt
wurde ... wie warmherzig und liebevoll sie zu den
Eltern, ihren Kindern, waren. So geliebt von ihren
Kindern, dass deren Kinder und Kindeskinder sie heute
noch ehren? Unvergessen jedenfalls.
Links rüber, nah an der Friedhofsmauer verschwinden
die Gräber dann schon unter wahren Wogen von Efeu und
die Bäume beugen ihre Äste tief, ohne dass die
Verwaltung sie daran hindert ... vielleicht lässt man
hier nun der Natur gänzlich ihren Lauf? Ich gehe
leise rüber und versuche vorsichtig, den starr
haftenden Bewuchs zu verschieben. Nichts zu machen,
hier kann man nicht einmal mehr die Namen lesen. Die
hier sind also wirklich tot ... Heimgekehrt?
Es gibt natürlich noch die Möglichkeit, sich über
große Taten, Entdeckungen und Kunstwerke in die
Unsterblichkeit zu erheben. Bach, Darwin, Goethe,
Mozart, Galilei, Michelangelo - vielgeliebt, oder
zumindest bekannt (Darwin) um ihrer Werke willen und
unsterblich? Ich weiß nicht. Die Werke geliebt, ja
sicher. Hören Sie mal die Matthäus-Passion, das ist
im wahrsten Sinne des Wortes liebenswert.
Aber Bach? Lieben Sie dadurch Bach und tragen Sie ihn
im Herzen? Ich nicht. Ich kann nur lieben, wen ich
kannte. Achten und verteidigen - das geht auch bei
anderen; etwa Tolkien gegen dümmliche Literaturkritik
oder den uralten Platon gegen moderne
Philosophenschnösel, die sich für sooo viel schlauer
halten. Aber lieben? Nein.
Also sterben wir alle
einmal wirklich, richtig und unwiderruflich? Ja, wohl
schon. Vielleicht leben wir ja woanders weiter ...
Keine Ahnung ... Aber ich mag Efeu, ich kann mir
seine Umarmung ganz angenehm vorstellen ... Und
irgendwann wird, was Teil von mir war, Efeu sein und
umarmt ...
Gut!