"Noch nie wurde soviel geschrieben wie heute",
Warum? Weil es sich beim Schriftlichen um bleibende Ausdrücke menschlicher Empfindungen und Ansichten handelt, von denen zunächst einmal gilt, dass je mehr auch je besser ist, denn eine möglichst große Breite schriftlicher Äußerungen entfaltet erst das Spektrum menschlichen Denkens und Fühlens so richtig. Dass dabei auch so mancher sexistische und politische Dreck zutage tritt, ist zwar weniger schön, vermag aber wenigstens noch als abschreckendes Beispiel und Warnung zu dienen.
Zudem ist auch von Bedeutung, dass die
Schriftlichkeit das Geplauder festhält und fixiert
und es so zur akuraten Rekonstruktion von
Augenblicken, Perioden und Lebensabschnitten
bereithält. Für andere und für die Kommunizierenden
selbst. Ich jedenfalls hebe Emails auf und lese
wehmütig, belustigt, erfreut noch nach Jahren, was
mir mancher liebe Mensch einmal für nette oder
lustige Sachen geschrieben hat.
Und die Fixation von Gedanken mag viertens dazu
führen, dass die Gedanken ein bisschen besser
durchdacht werden, bevor man sie eintippt, als dies
in manchem Gespräch und Telefonat der Fall wäre. Die
große "Haltbarkeit" des Schriftlichen kann sich
allerdings natürlich auch zu einem Bumerang
entwickeln, wenn der zukünftige Arbeitgeber einen
ergoogelt und den Namen mit dem Nick "bernie89" in
Verbindung bringen kann, wenn "bernie89" in
irgendwelchen Foren von seiner Trink- und
Drogenfestigkeit berichtete.
Ich hänge diese Form der Schriftlichkeit zu hoch
meinen Sie? Weil die Mehrheit davon aus
Belanglosigkeiten, Verabredungen zu Pizza und Party
sowie aus sinnentleerten Äußerungen der Art "Hey,
knuddeldrück, greetz die anderen, ich geh´jetzt eine
8-Q, bis bald auf der <:-I" besteht? Nein, das ist
mitnichten belanglos. Denn erstens stellt es in der
Masse der Äußerungen ein hochinteressantes Abbild der
aktuellen (und irgendwann einmal historischen)
(Jugend-)Kommunikation dar, das zu beobachten
spannend und lehrreich über Kommunikationsweisen, das
soziale Miteinander und psychische Befindlichkeiten
instruiert. Und zweitens hat jedes einzelne
"knuddeldrück" für den Adressaten eine besondere
Bedeutung, die anscheinend einem echten, physisch
empfindbaren Umarmtwerden wenig nachsteht. (Das sah
ich in diesem Aufsatz für das
CMC-Magazine vor 11 Jahren anders, revidiere
aber meine Meinung mehr und mehr - es scheint,
dass es doch echte Nähe auch ohne
face-to-face-Kontakte geben kann.)
Noch gar nicht erwähnt sind dabei die unendlich
erweiterten Möglichkeiten der Meinungsbildung - durch
demokratisierte bis anarchisierte
Mitsprachemöglichkeiten in der Massenkommunikation,
die ehedem von zwei Fernsehsendern, einer Handvoll
Printmedien und dem Dudelradio beherrscht wurde - und
vor allem die Möglichkeiten der aktiven Teilhabe an
Meinungsbildungsprozessen sowie des Lernens und des
Lehrens (denn auch Jugendliche und erwachsene
Nichtmitglieder von Lehranstalten können lehren, wenn
sie beispielsweise instruktive Blogs unterhalten oder
bei Wikipedia sauber recherchierend mitarbeiten).
Aber diese Formen der "ernsthaften" Schriftlichkeit
sind mir gar nicht zuerst in den Sinn gekommen als
ich den WAZ-Artikel las, sondern eben das zwanglose
Geplauder und Gezwitscher - schriftlicher Form.
Gut, dass es das elektronische Gezwitscher gibt, über
die als angenehm empfundene Dosis entscheidet ja
jede/r selbst. In diesem Sinne - knuddeldrück
Frank